Jörg Steinert im Interview zur Buchpremiere von »Pilgerwahnsinn«
Unser Autor Jörg Steinert hat in Berlin erfolgreich sein neues Buch »Pilgerwahnsinn – Warum der Jakobsweg süchtig macht« vorgestellt.
Aktuelles Interview Gesellschaft Glaube ToleranzDas Pilgern war Liebe auf dem zweiten Blick
Lebe gut: Lieber Herr Steinert, in Ihrem ersten Buch »Pilgerwahnsinn« geht es um Ihre Erfahrungen auf dem Jakobsweg, genauer: auf den verschiedenen Jakobswegen nach Santiago de Compostela. Sie sind ein kritischer ostdeutscher Protestant aus Zwickau und leben in Berlin. Was hat Sie nur auf den Jakobsweg gebracht?
Jörg Steinert: Ich bin vor allem auch ein Lesben- und Schwulenaktivist, der die Geschlechter- und Sexualpolitik der katholischen Kirche kritisiert und religiösen Traditionen Skepsis entgegenbringt. Wenn mir jemand vor sechs Jahren erzählt hätte, dass ich eine solche Leidenschaft für den Jakobsweg entwickeln würde, dann hätte ich sie oder ihn vermutlich für verrückt erklärt. Es war purer Zufall und Liebe auf den zweiten Blick. Aber die meisten wichtigen Dinge im Leben kommen ungeplant – und manchmal auch den eigenen Vorurteilen zum Trotz.
Lebe gut: Sie legen in ihrem Buch »Pilgerwahnsinn« ja offen, dass Sie kein »geborener Sportler« sind. Die Pilgerschaften nach Santiago waren für Sie durchaus auch körperlich anstrengend. Was unterscheidet für Sie persönlich eine Pilgerfahrt von einer sportlichen Wanderung aus Fitness-Gründen?
Jörg Steinert: Beim Wandern bewege ich mich äußerlich. Beim Pilgern bewege ich mich aber auch innerlich. Ich habe ein paar hundert Kilometer gebraucht, um das zu erkennen.
Warum Pilger die Weltpolitik lenken sollten
Lebe gut: In Ihrem Buch »Pilgerwahnsinn« schildern Sie viele Begegnungen – die Bandbreite reicht von sehr skurril bis sehr freundschaftlich. Lassen sich Menschen besser oder anders kennenlernen, wenn man sich auf einem Pilgerweg begegnet?
Jörg Steinert: Auf dem Jakobsweg verbringt man mitunter nicht nur den Tag mit anderen Pilgern, sondern auch die Nacht im Schlafsaal. Die körperlichen Strapazen, das wechselhafte Wetter und der Bettenmangel können Menschen, die sich im Alltag gegenseitig nie wahrgenommen hätten, zusammenschweißen. Das funktioniert aber nur, weil sich die Pilger mit großem gegenseitigen Wohlwollen begegnen. Menschen aus 190 Nationen waren im Jahr 2019 auf dem Jakobsweg unterwegs. Von relevanten Konflikten keine Spur. Vielleicht sollten Pilger zukünftig die Weltpolitik lenken.
Lebe gut: Neben anderen Menschen sind Sie bei Ihrem Pilgern auf dem Jakobsweg auch sich selbst neu begegnet. In Ihrem Buch erfährt man sehr unterhaltsam auch Ihre Begegnungen mit den eigenen Macken. Würden Sie sagen, dass der Jakobsweg Sie auch verändert hat?
Jörg Steinert: Meinen Sie etwa meine Phobie, in Anwesenheit anderer Zähne zu putzen? (lacht) Oh ja, so manches Scham- und Ekelgefühl musste überwunden werden. Ansonsten hoffe ich, dass mich meine Pilgerreisen offener für Fremdes und Neues gemacht haben. Ich glaube, dass ich durch den Weg mutiger geworden bin, Veränderungen in meinem Leben zuzulassen.
Wie der Jakobsweg zum Rückzugsort für eine Frauenrechtlerin und einen Homosexuellenaktivisten wurde
Lebe gut: Sie sind mit einer eigenen Website »Pilgerwahnsinn.de« und auf Facebook und Instagram unterwegs, um Menschen für das Pilgern auf dem Jakobsweg zu begeistern. Wen Sie mit Ihrer Begeisterung anstecken konnten, war zum Beispiel die liberale Muslimin und Frauenrechtlerin Seyran Ateş, mit der Sie einen Teil des Weges gelaufen sind. Wie war das: eine Muslimin und ein Protestant auf einer katholischen Pilgerfahrt?
Jörg Steinert: Ich habe auf dem Jakobsweg immer große Gastfreundschaft erlebt, auch als ich zusammen mit Seyran Ateş unterwegs war. Ein besonderer Moment war der Pilgersegen in Le Puy für unsere interreligiöse Gruppe und die dortige Verabschiedung durch den Priester. Am Ende unserer Pilgertour wollten Seyran und ich am liebsten nicht zurück ins politische Berlin. Wer hätte das gedacht, dass der Jakobsweg der perfekte Rückzugsort für einen Frauenrechtlerin und einen Homosexuellenaktivisten wird. Das zeigt aber auch, dass der Weg sich im Laufe der Zeit geändert hat. Im Mittelalter wäre diese Konstellation undenkbar gewesen.
Lebe gut: 2021 ist ein »Heiliges Jahr« in Santiago de Compostela, immer dann, wenn das Fest des Schutzheiligen Jakobus auf einen Sonntag fällt. Noch ist nicht klar, wie sich die Corona-Krise auf die Pilgerzahlen auswirken wird. Es gibt aber nicht nur Jakobswege im Ausland, sondern auch bei uns in Deutschland. Sie selbst haben sich sehr dafür eingesetzt, alte Wege des Jakobswegs in Berlin-Brandenburg auszuschildern. Wie sehen Sie die Zukunft des Pilgerns?
Jörg Steinert: Meine Pilgerreisen in Deutschland empfand ich bis vor kurzem noch als bloßes Wandern, weil die Begegnungen mit anderen Pilgern ausblieben. Das ändert sich zunehmend. Das regionale Pilgern in Deutschland wird wiederentdeckt. Hierzu konnte ich mit meiner Initiative zur Ausschilderung des Jakobsweges durch Berlin einen kleinen Beitrag leisten.
Kürzlich habe ich ein Pilgerpaar am Südkreuz in Berlin mit dem Pilgergruß »Buen Camino« angesprochen. Die beiden waren so stolz, dass ich sie in ihrer Rolle als Pilger wahrnahm. Was die Zukunft anbelangt: Seit 2018 pilgern erstmals mehr Frauen als Männer auf dem Jakobsweg. Corona hat diesem Trend, der sich 2019 fortgesetzt hat, zwar im Jahr 2020 einen Strich durch die Rechnung gemacht. Aber ich bin davon überzeugt, dass 2021 wieder mehr Frauen auf dem Jakobsweg unterwegs sein werden. Ich selbst starte Ende August meine Pilgerreise durch Deutschland in einer Gruppe von Frauen. Ich bin sehr gespannt auf unsere Erfahrungen in Ost- und Süddeutschland.