Wie wir unserer Angst Grenzen setzen können
Besonders in Krisenzeiten müssen wir unser Selbstwertgefühl stärken. Ein Gespräch mit Pierre Stutz
Lebenshilfe Interview Gelassenheit Achtsamkeit LebenskriseLebe gut: Lieber Pierre Stutz, eines Ihrer Bücher trägt den programmatischen Titel »Lass dich nicht im Stich«. Eine Aufforderung, die in Zeiten der Corona-Krise einen besonderen Stellenwert hat.
Pierre Stutz: In Zeiten der Verunsicherung ermutige ich uns erst recht, auch gut mit uns selbst zu sein, uns nicht im Stich zu lassen, regelmäßig innezuhalten im Schöpfen aus der inneren göttlichen Quelle, um dadurch verantwortungsvoll, mitfühlend, kämpferisch-gelassen handeln zu können. Wie ich es in »Lass dich nicht im Stich« geschrieben habe: Heute versuche ich, Ja zu sagen zu meinen durchkreuzten Lebensplänen, entdecke eine Krise als Chance.
Lebe gut: »Stay at home« ist ein Slogan der Corona-Krise. Viele Partner, Familien, Lebensgemeinschaften verbringen plötzlich viel mehr Zeit als sonst auf möglicherweise engem Raum miteinander. Da sind Konflikte wahrscheinlich. Was bedeutet Konfliktfähigkeit in dieser Zeit?
Pierre Stutz: Es bedeutet für mich, ein Leben lang einzuüben, dass in gesunden Beziehungen, wo Menschen einander auf Augenhöhe begegnen, Meinungsverschiedenheiten und Konflikte zum Leben gehören. Ein persönliches Wachsen und Reifen in Freiheit und Geborgenheit wird möglich, wenn wir auch fair miteinander streiten und dabei verinnerlichen, dass dies immer mehr oder weniger gelingen wird! Sich Zeit nehmen, um miteinander einen Konflikt auszutragen, ist ein Zeichen der gegenseitigen Wertschätzung.
Lebe gut: Zur Konfliktfähigkeit gehört vor allem auch, sich selbst das Ärgern nicht zu verbieten. Sie schreiben, dass Ärger gerade dabei hilft, eigene Stärken, aber auch Grenzen anzunehmen. Wie können wir Ärger in positive Energien verwandeln?
Pierre Stutz: Ärger hat immer einer tiefen Grund. Dank der gewaltfreien Kommunikation habe ich entdeckt, dass mein Ärger mich auf meine unterbelichteten Bedürfnisse zurückwirft. Die Gratwanderung besteht darin, sich Ärger zu erlauben, weil er mich aufmerksam macht auf das, was mir im Leben wichtig ist. Zugleich gilt es achtsam zu sein, damit der Ärger sich nicht verselbständigt und in Meckern und Nörgeln ausartet. Deshalb bestärke ich uns alle, unser Selbstwertgefühl zu stärken, indem wir nicht nur Anerkennung von den anderen erwarten, sondern auch uns selbst anerkennen können, was uns heute gut gelungen ist. Dabei darf nicht vergessen werden, dass wir zum Glück immer unvollkommen sein dürfen. Glücklich werden wir, wenn wir jeden Tag achtsam versuchen, unser Bestes zu geben, und zugleich annehmen, dass all unser Tun immer auch bruchstückhaft sein darf. Und das ist gut so!
Lebe gut: Sich selbst mit den eigenen Stärken und Kräften anzunehmen: dazu gehört es, sich immer wieder gegenüber den Erwartungen anderer, gerade besonders naher Menschen auf eine gesunde Distanz zu bringen. Wie kann das Paaren oder Familiengemeinschaften in diesen Zeiten gelingen?
Pierre Stutz: Es kann gelingen, wenn wir miteinander einüben, uns mit »Ichbotschaften« auszudrücken. Das schreibt sich so leicht! Wenn Ärger sich meldet, besteht die Gefahr, dass wir uns oft unbewusst mit Schuldzuweisungen und Pauschalisierungen ausdrücken: »Du kommst immer zu spät, du reinigst nie die WC-Brille, du, du ...« Mit solchen Bewertungen ist der Widerstand vorprogrammiert. Hilfreicher für ein angeregtes Gespräch sind Aussagen, in denen ich mitteile, weshalb ich mich jetzt ärgere: »Weil mir Verlässlichkeit wichtig ist, tue ich mich schwer, wenn ich lange auf dich warten muss ... Weil mir Ordnung und Sauberkeit im Zusammensein guttun, wünsche ich mir, dass wir miteinander klären, wie wir mit unserer Verschiedenheit in der Ordnungsfrage umgehen können und wie jede/r von uns Kompromisse machen kann, ohne sich dabei ganz im Stich zu lassen.«
Lebe gut: Der Corona-Virus betrifft unsere elementarste Lebensäußerung: das freie Atmen. Welche konkrete Übung schlagen Sie vor, um in diesen Zeiten gut für den eigenen Atem zu sorgen?
Pierre Stutz: Je mehr wir gefordert sind und je komplexer unser persönliches und gesellschaftliches Zusammensein sich gestaltet, desto mehr braucht es den Bewusstseinswandel, regelmäßig auch gut für sich selbst zu sorgen. Dies wird konkret möglich, wenn wir den Tag hindurch regelmäßig eine Minute zu Gast bei uns selbstsind, bewusst beide Füße auf den Boden stellen und tief ein- und ausatmen. Der Atem ist das große Geschenk unseres Lebens, sehr persönlich und zugleich zutiefst verbindend mit Schöpfung und Kosmos. Mein regelmäßiges tiefes Durchamten erinnert mich immer wieder, dass es wohl auf mich ankommt und nie von mir alleine abhängt. Diese Lebenskunst nenne ich engagierte Gelassenheit.