Als Kind in Kabul habe ich meine Eltern bewundert, dass sie im Monat Ramadan gefastet haben. Unmöglich schien mir, selbst auch einmal zu fasten. Gerne wollte ich mitaufstehen, wenn sie mitten in der Nacht zum Gebet und vor allem zum Essen und Trinken verabredet waren. Am Morgen roch die ganze Wohnung noch nach den Leckereien, die ich dann kosten durfte.
Einübung ins Mitgefühl
Ich habe damals den großen Sinn des Fastens nicht wirklich erfasst. Meine Eltern gaben mir keine Erklärung: nicht dass in diesem Monat der Koran offenbart wurde, nicht dass es eine religiöse Pflicht sei, eine Grundsäule des Islams, sich für einen Monat von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang in Verzicht zu üben. Vielmehr ging es im Ramadan hauptsächlich um das Mitgefühl mit den Menschen, die nichts oder nicht viel zum Essen und Trinken haben. Es ging nicht um Mitleid, sondern um Mitgefühl, um die Erfahrung der Bedürftigkeit anderer in einem selbst. Vor allem habe ich als Kind nicht begriffen, was es heißt, wenn mein Vater sagte, dass Fastenkönnen ein Privileg sei, denn Armut würde nicht einmal Raum für das Fasten geben. Ich erinnere mich an die Rührung meiner Eltern im Augenblick des Fastenbrechens, an die stille Freude, an die Dankbarkeit und die Wertschätzung für das Essen und das einfache Wasser. Vor meinen kindlichen Augen wurde jeden Abend beim Fastenbrechen das Leben in seiner Einfachheit gefeiert. Es wirkte so, als wäre alles so unendlich kostbar. Das Selbstverständliche, das Alltägliche und das Gewöhnliche gewannen einen eigenen Zauber.
Die Erfahrung der Unverfügbarkeit
Der Ramadan kehrt jedes Jahr aufs Neue zurück, aber da die Mondmonate kürzer sind als die Kalendermonate, so wandert er durchs ganze Jahr, nimmt jede Jahreszeit mit. Nicht nur der Verzicht auf das Genussvolle oder Verwerfliche gehört zum Ramadan, sondern auch eine spirituelle Erfahrung der Unverfügbarkeit. Heute habe ich eine eigene Beziehung zu dieser Erfahrung. Ich verfüge nicht darüber, ob ich überhaupt fasten kann. Ich fühle mich leiblich geschwächt, verletzlich, aber auch leicht, geistig wach, mitfühlend und zugleich milde gestimmt, in ständiger Berührung mit meinen Schwächen, mit meinen Unzulänglichkeiten.
Dann aber nähert sich der Augenblick des Fastenbrechens, ja der letzte Abend. Ich nehme den ersten Schluck Wasser zu mir und plötzlich steigen in mir gemischte Gefühle auf: Freude, dass alles überstanden ist, aber auch Wehmut, dass die Unterbrechung vom gewohnten Alltag aufhört. Die innere Freiheit, die sinnstiftende Öffnung für die Leere in mir vergehen nicht einfach. Sie hinterlassen Spuren für die Zeit danach. Und ich erinnere mich: Nicht jeder Ramadan ist gleich, und nicht einmal jeder Ramadantag fühlt sich gleich an. Ich weiß nicht, was der nächste Ramadan mit sich bringen, was er in mir berühren, was er korrigieren, was er offenlegen wird. Die Unverfügbarkeit drängt unmerklich ins Innere, wie eine Gabe, die aus einem selbst erwächst. Ist dies Segen? Zumindest der Wunsch danach ist groß, das Fest zum Ende des Ramadan mit dem Gruß zu eröffnen: Gesegnetes Fest, Eid Mubarak!
Ihr Ahmad Milad Karimi