Die Telefonnummer Allahs
Suhila Thabti-Megharia ist eine von 36 muslimischen Frauen, die uns im Buch »Heraus aus dem Schatten« von ihrem ganz persönlichen Alltag erzählt
Reportage Gesellschaft ToleranzMittlerweile bin ich Mitte dreißig, habe drei Kinder und mache mir, wie so viele andere Eltern, Gedanken über die Erziehung meiner Kinder. Ich schaue dann gerne auf meine eigene Reise zurück. Ich bin sehr dankbar, wie unsere Eltern meine drei Brüder und mich aufwachsen ließen. Meiner Meinung nach, ist ein Vorbild zu sein das A und O.
Vielleicht kennst du den Ausspruch des Propheten Muhammads (Friede und Segen sei mit ihm):
»Binde dein Kamel an und dann vertraue auf Allah.«
Genau so möchte ich es handhaben. Ich gebe mein Bestes, auf alles andere habe ich keinen Einfluss. Es gab bei mir nie eine Zeit, in der ich die Existenz Gottes infrage gestellt habe. Vielmehr waren die Antworten auf meine Gebete immer wieder eine Bestätigung, dass er da ist. Ich müsste sechs Jahre alt gewesen sein, als ich auf meinem Kindergartenweg über Gottes Eigenschaften philosophierte. Ich bin in Basel geboren und aufgewachsen. Damals war es üblich, dass wir den Kindergartenweg ohne Eltern antraten.
Normalerweise lief ich immer mit meiner Nachbarin Christine. Alle hielten uns für Zwillinge und ich stehe bis heute mit ihr in Kontakt. Wir haben eine besondere Beziehung. Christines Familie ist Teil einer großen christlichen Gemeinschaft, bei deren Veranstaltungen ich in meiner Kindheit und Jugend ab und zu teilgenommen habe. Heute ist sie verheiratet, hat ebenfalls drei Kinder und ihr Mann ist Pfarrer. Ich bin davon überzeugt, dass unsere Freundschaft ein Geschenk Gottes ist.
An diesem besagten Tag lief ich allein in den »Kinddsgi«, wie man den Kindergarten auf Baseldeutsch nennt. Der Weg zum Kindergarten dauerte etwa zehn Minuten. An der Ecke befand sich eine Abzweigung. Es gab den normalen Weg nach rechts, den wir einhalten sollten, und es gab dann noch einen Weg linksherum, der eigentlich zu vermeiden war.
Die großen Fragen des Lebens
Während ich auf diese »Ecke der Entscheidung« zulief, fragte ich mich, ob Gott schon wisse, welchen Weg ich nehmen würde, auch wenn ich kurzfristig doch den anderen Weg wähle …? Mit meinen sechs Jahren kam ich dann darauf, dass er wahrscheinlich schon alles viel früher weiß als ich, auch wenn ich in dem Moment selbst die Entscheidung treffe. Ich kann mich auch noch gut an die Gedankengänge erinnern, bei denen ich mich fragte, wer denn Gott erschaffen hätte. Ein größerer Gott? Und wer hat dann diesen erschaffen?
Als ich merkte, dass diese Überlegungen ins Unendliche ausarten würden, gab ich mich damit zufrieden, dass Gott selbst keinen Anfang und kein Ende haben kann. Wenn ich im Nachhinein an diese Situationen denke, erinnert es mich an die Geschichte des Propheten Abraham (Fsmi), wie sie im Koran erzählt wird. Schon als Kind beobachtete er seine Umwelt und kam zu der Erkenntnis, wer der Schöpfer von allem sein musste. Diese Erkenntnis machte ihn so stark, dass er vielen Widrigkeiten seiner eigenen Umwelt standhielt.
Verstehe mich nicht falsch. Hier vergleiche ich mich nicht mit einem der größten Propheten. Vielmehr möchte ich darauf hinweisen, dass wir nur durch eigene Überlegungen und Schlussfolgerungen zu Erkenntnissen kommen können und somit auch standhaft sind. Im Koran werden wir sehr oft aufgefordert, unseren Verstand zu benutzen, die Umwelt zu betrachten, um dann Gott zu erkennen und Ruhe im Herzen zu finden.
Ich bin in einem, ich würde sagen, spirituellen Haushalt aufgewachsen. Mein Vater ist Algerier und »gebürtiger« Muslim. Das Wort gebürtig setze ich in Anführungszeichen, weil im Islam davon ausgegangen wird, dass jeder Mensch als Muslim geboren wird. Übersetzen wir das Wort Muslim ins Deutsche, heißt es nichts anderes als »Gott ergeben zu sein«. Deshalb spreche ich auch nicht gern von der Konvertierung als vielmehr von der Revertierung meiner deutschen Mutter, bei der ich als Neunjährige anwesend war. In meinem Fotoalbum gibt es ein sehr anschauliches Bild von unserem damaligen Familienleben:
Meine drei Brüder und ich sitzen am Tisch. Im Vordergrund ein Adventskranz mit roten Kerzen, im Hintergrund eine Ramadankulisse, gebastelt von meinem Vater. Mein Vater hat spielerisch versucht, uns den Islam näherzubringen. So brachte er mir einmal die Telefonnummer Allahs bei: »24434«.
Kein Anschluss unter dieser Nummer
Was ich damals noch nicht wusste: Die fünf täglichen Gebete setzen sich aus einer unterschiedlichen Anzahl an Gebetseinheiten zusammen. So hat das Morgengebet zwei Gebetseinheiten oder Rakat, wie man sie auf Arabisch nennt. Das Mittags- und Nachmittagsgebet haben jeweils vier Einheiten, das Sonnenuntergangsgebet drei und das Nachtgebet wieder vier. Ich rannte schnurstracks zum Telefon und wählte. »Kein Anschluss unter dieser Nummer.« Erst viel später merkte ich, was mein Vater mir damit sagen wollte. Er wollte mich darauf hinweisen, dass ich mich an die Gebete halten soll, wenn ich die Verbindung zu Gott suche. Tatsächlich wurde die Religion für mich selbst erst in meinem Abiturjahr interessant. Durch den Musiker Sami Yusuf bekam ich einen eigenen Zugang. Auf meinem dreizehn Kilometer langen Schulweg mit dem Fahrrad hörte ich seine Texte auf meinem Walkman rauf und runter. Auch meinen Au-Pair-Aufenthalt organisierte ich mir in Kairo, in der Hoffnung, mehr von der Kultur, der Sprache und natürlich auch der Religion mitzubekommen.
Wieder in Deutschland angekommen suchte ich den Kontakt zu muslimischen Leuten. Da ich in einem kleinen Dorf wohnte und sonst kaum andere Muslime kannte, ging ich online auf die Suche. Per Mitfahrgelegenheit tuckerte ich von der Schweizer Grenze nach Frankfurt zu einer dreitägigen Jugendveranstaltung. Dieses Event war so eine Art Wendepunkt. Ich kaufte mir meinen ersten Koran, ich fing an regelmäßig zu beten und ich lernte über schicksalhafte Umstände meinen Mann kennen. Und stell dir vor, wer als Überraschungsgast aus London angereist kam? Der Sänger, Sami Yusuf.
Alles nur Zufall oder doch geplant?
Da ich damals wahrscheinlich die Einzige war, die nicht in einer Gruppe anreiste, wurde ich in das Zimmer der Köln-Bonner Mädchengruppe untergebracht. Damals wusste ich jedoch noch nicht, dass ich studieren würde, geschweige denn in Bonn, und dass ich an einer Ramadan-Student*innenveranstaltung auf meine Bettnachbarin treffen würde. Solche Fügungen und viele erhörte Bittgebete zeigten mir immer wieder, dass unser Leben kein Zufall sein kann.
Während meiner Studienzeit traf ich sehr viele muslimische Frauen und ich merkte, dass mir das all die Jahre gefehlt hat. Ich setzte mich viel mit der Religion auseinander. Auch durch meine Biologievorlesungen lernte ich die Schöpfung Gottes immer mehr zu lieben und konnte mich für wissenschaftliche Erkenntnisse im Koran begeistern.
Als meine erste Tochter dann drei Monate alt war, stellte ich mir vor, dass sie mich eines Tages mit der Frage konfrontieren würde, weshalb manche Frauen ihre Haare bedecken und ich nicht. Das war der Tag, an dem ich mich am Abend des 21. Septembers 2008 im Ramadan mit einem knallroten Tuch auf die Straße begab. Ich kam freudestrahlend nach Hause. Mich hat eine mir fremde Familie mit »Assalamu aleikum« gegrüßt. Das ist bisher noch nie vorgekommen. Ich gehe vertrauensvoll durch das Leben. Manche Dinge verstehen wir erst im Nachhinein, trotzdem bin ich überzeugt, dass wir alle Erfahrungen brauchen, um unsere eigenen Überzeugungen zu festigen und so auf unserem Weg zu Gott einen Schritt weiterzukommen.
Wir planen, doch Gott ist der beste Planer.
(Suhila Thabti-Megharia)
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