Eine neue Worry-Life-Balance

Vorstand Ulrich Peters plädiert für ein Gleichgewicht aus notwendigen und angemessenen Sorgen und unbekümmerter Lebenslust. Ein Neujahrsgruß

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Wie sind eigentlich Sie, verehrte Leserinnen und Leser, ins neue Jahr gekommen? Erleichtert und erlöst, weil Sie 2020, das Jahr des Virusʼ, endlich hinter sich lassen konnten? Gehören Sie zu denen, die aufatmeten und nun sagen, dass es nur noch besser werden könne? Oder gehören Sie eher zu denen, die sich zwar auf das neue Jahr freuen und ihm auch irgendwie vorsichtig erwartungsvoll entgegenblicken, die es aber nicht so leicht zu nehmen vermögen, die genervt sind, mürbe von der Corona-Endlosschleife und sich Sorgen machen?

Viele bleiben mit ihren Sorgen allein

Dann willkommen im Club. Sie befinden sich in guter und zahlreicher Gesellschaft. Statistisch gehören Sie damit zur Mehrheit der Bevölkerung. Die Sorgenliste der Deutschen ist lang angesichts von Covid-19, der »Pandemie der Angst«. Das hat das Meinungsforschungsinstitut Forsa mit einer Umfrage zur seelischen Gesundheit der Deutschen im Herbst des vergangenen Jahres festgestellt: Fast 70 % der Erwachsenen fühlen sich emotional belastet, weil sie um die Gesundheit von Angehörigen fürchten. 55 % leiden unter der Unsicherheit, wie es in den nächsten Monaten weitergehen soll. Auch die Einschränkungen des Handlungsspielraums, der Verlust sozialer Kontakte und Sorgen um die eigene Gesundheit setzen einem großen Teil unserer Mitmenschen zu. 15 % sorgen finanzielle Schwierigkeiten. Die fehlende Trennung von Arbeit und Privatleben im Homeoffice belastet etwa jede und jeden Zehnten. Frauen leiden stärker in der Krise als Männer. Und das alles äußerten die Befragten, als der Lockdown light oder der Dezember-, Januar- und Februar-Lockdown noch nicht einmal in Kraft waren.

Inzwischen hat sich die Dynamik weiter beschleunigt wie zuletzt der Deutschlandtrend des ARD-Morgenmagazins vom 22. Januar 2021 belegt. Anders als im Frühjahr des vergangenen Jahres ist wohl auch kein schneller Rückgang der aktuellen Welle zu erwarten. Das macht es für viele noch schwieriger, psychisch gesund und unbeschadet durch die Wintermonate zu kommen. Zudem zeigt die Forsa-Umfrage: Viele bleiben mit ihren Sorgen allein. Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, sich in emotional belastenden Situationen selten oder nie Hilfe von anderen zu holen.

Warum sich sorgen auch Leben bedeutet

Die Sorge, sie hat viele Gesichter. Im Laufe der Welt- und Menschheitsgeschichte hat sie sich als Schutzmechanismus bewährt. Vorsorge, das ist eine unschätzbare zivilisatorische Leistung. Sie ist eine Antwort auf die beständige Bedrohung und Gefährdung des Lebens. Sie ist ein Handeln aus Unsicherheit, um unserem Leben Stabilität zu verleihen. Was wären wir ohne unsere Berufe, mit denen wir unseren Lebensunterhalt sichern? Was ohne die Vorräte, die wir anlegen, um unsere Ernährung in der nächsten, nahe und fernen Zukunft zu gewährleisten? Wo blieben wir ohne Altersvorsorge, Warnsysteme, Pandemie-Pläne, Hilfsleistungen?

Das gleiche gilt für die Fürsorge, unser Engagement für diejenigen, die sich noch nicht oder nicht mehr selber um sich kümmern können: unsere Kinder, die kleinen und die großen, aber auch – für viele von uns – inzwischen ihre alternden Eltern, die schwächer werden, vielleicht gebrechlich oder an Demenzen leiden und langsam im Vergessen zu versinken drohen. Schließlich unsere Sorge um diejenigen, die das Leben alleine einfach nicht packen. So gesehen müssen wir sie loben, die Sorge, weil sie uns leben lässt. Gut, dass es sie gibt.

Wenn aus Sorgen Ängste werden

Aber es gibt ja auch die andere Sorge, die Schwester der Angst. Sie lähmt uns, zerfrisst unsere Seelen, nimmt uns die Luft zum Atmen und die Kraft zum Leben. Sie macht uns krank und kann buchstäblich ums Leben bringen. Diese Sorge hat vernichtende Kraft und wir sind gut beraten, uns vor ihr zu hüten. Aber wenn das so einfach wäre. Denn letztlich entspringt alle Sorge aus einer Quelle. Das ist die Fähigkeit und das Grundbedürfnis des Menschen: sich die Zukunft zu erschließen, über Künftiges bewusst nachzudenken, es zu planen und auszugestalten. Keine anderen Lebewesen sind dazu in einem derartigen Ausmaß in der Lage wie wir Menschen. Das liegt an unserer Natur, der Grundausstattung und -disposition des Menschlichen. Zukunft ist für uns elementar, ohne sie können wir nicht wirklich leben, ohne Perspektiven erlahmt unsere seelische und körperliche Vitalität. Die Fertigkeit, Zukunft zu schaffen, bevorstehendes gedanklich vorwegzunehmen, ist dabei dem Präfrontalen Cortex unseres Gehirns, dem sogenannten »Stirnhirn« zu verdanken. Dort sitzt, was den Menschen zum Menschen macht: eine kontrollierte, vernünftige, sozial handelnde Person, die aufgrund ihrer Erfahrungen, ihrer Bildung und Kultur komplexe Entscheidungen trifft und dabei deren Konsequenzen berücksichtigt und mit ins Kalkül zieht.

Hoffnung und Hoffungslosigkeit liegen nah beieinander

Diese Fertigkeit, das Morgen vorwegzunehmen, um das Heute zu bestehen, schließt sowohl das Vertrauen ins Gelingen als auch die Furcht vor dem Misslingen ein. Die Sorge ist also so etwas wie der Preis, den wir dafür zahlen, dass das Leben immer offen vor uns liegt, ungewiss bleibt und stets unserer aktiven Gestaltung bedarf. »Sorge dich nicht, lebe«? Ganz so einfach wie es der Weltbestseller von Dale Carnegie verspricht, verhält es sich wohl nicht.

Die Sorge, sie hat – wie vieles im Leben – mindestens zwei Seiten. Sie verursacht Stress und ist zugleich eine Energie, die uns weiterbringt. Aber jetzt wird es spannend: Was immer wir geistig vorwegnehmen – der Neurobiologe Joachim Bauer spricht in seinem lesenswerten Buch »Selbststeuerung« von »mentalen Antizipationen« – hat einen tatsächlichen Einfluss auf das, was kommen wird. Das liege daran, dass Pläne, die wir für eine zukünftige Entwicklung entwerfen und die Haltung aus der wir das tun, wie »Attraktoren« oder Katalysatoren wirken, die dem künftigen Geschehen den Boden bereiten. Es gehe soweit, dass die biologischen Systeme des Körpers aufgeladen oder geschwächt werden, je nachdem, ob die Erwartungen mit Zutrauen und Hoffnung oder mit Angst und Hoffnungslosigkeit verbunden seien. Der Geist, unsere Gedanken und Vorstellungen wirken hier unmittelbar auf unsere Biologie und unseren Körper.

Keiner von uns ist sorgenfrei

So zu tun, als gäbe es die Sorge nicht, führt zu nichts und scheint nicht einmal klug. Es bringt nichts, sich vorzumachen, man (oder frau) wäre sorgenfrei. Wir sind es nicht. Nie, und auch das ist gut so. Wenn es dumm läuft, verstärkt der stete Kampf gegen die Sorge nur deren destruktive, kraftraubende Seite. Die Kunst besteht wohl eher darin, sie wie einen Gast im eigenen Leben willkommen zu heißen, sie zu nehmen, wie sie ist und ihr den angemessenen Platz anzubieten und einzuräumen. Bei Jörg Zink habe ich dafür ein schönes Bild gefunden: Unser Leben sei wie ein Haus, sagt er, in dem die Sorge und das Vertrauen sich den gleichen Raum teilen. Wie im richtigen Leben habe das Vertrauen weniger Platz, wenn sich die Sorge ausbreite. Wo aber das Vertrauen Raum gewinne, werde die Sorge geringer. Uns sind beide Kräfte gegeben, es kommt auf deren Balance an. Die Sorge wohnt dem Leben wie das Vertrauen immer inne, aber wieviel Platz und welche Bedeutung sie beansprucht, das entscheiden wir als Hausherrn (und -frauen), wenn wir Frühjahrsputz halten, aufräumen und Sorgen und Vertrauen den Platz zuweisen, der ihnen zukommt und für sie angemessen ist.

Und da kommt wieder der entwicklungsgeschichtlich jüngste Teil der grauen Eminenz unseres Lebens ins Spiel – das Stirnhirn, der Präfrontale Cortex, wirklich »eine wahre Wunderkiste«. Er versetzt uns in die Lage, unsere Aufmerksamkeit zu fokussieren, uns zu zentrieren, konzentrieren und Komplexität zu meistern. Zugleich macht er uns flexibel, gedanklich beweglich, vermag verschiedene Aspekte und Perspektiven aufeinander abzustimmen. Er spielt bei der Ausbildung unserer sozialen Intelligenz und Beziehungsfähigkeit eine herausragende Rolle. Das zentrale und verbindende Stichwort bei alledem ist »Ausbildung«, ganzheitlich als Menschwerdung verstanden und nicht etwa einseitig kognitiv begriffen. Die Eigenschaften des Präfrontalen Cortex sind uns nämlich nicht angeboren. Angeboren sind nur dessen Möglichkeiten, unsere Potentiale. Alles ist möglich, wirklich alles. Was ich jedoch aus den speziellen und individuellen Möglichkeiten meines Menschseins mache, ist mir selber überlassen. Die Fähigkeiten müssen entwickelt und können trainiert und geübt werden. Hier gilt die berühmte neurobiologische Grundregel: »Use it or lose it«. Auch das ist wie im richtigen Leben. Neuronale Systeme und deren Funktionen, die keinem praktischen Gebrauch unterliegen und nicht angewandt werden, verkümmern.

Vertrauen Sie Ihren eigenen Kräften und lassen Sie sich nicht entmutigen

Seien Sie es sich wert und gehen Sie achtsam und aufmerksam mit sich und Ihrem Alltag um, er ist Ihr Leben. Lassen Sie sich nicht entmutigen, nie. Arbeiten Sie gerne. Nehmen Sie Ihre Aufgaben als Herausforderungen, an denen Sie wachsen. Vertrauen Sie Ihrer Kraft und (Lösungs)Kompetenz. Sammeln Sie sich sooft Sie können, das ist ein wirksamer Weg Stress zu reduzieren – sei es durch ausgiebige Spaziergänge an der frischen Luft, Yoga, MBSR (Mindfulness-Based-Stress-Reduction; zu Deutsch etwa: »Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion«), Gebet, Meditation oder was immer Ihnen persönlich hilft und guttut.

Interessieren Sie sich, verlieren Sie nicht die Neugier auf das große Rätsel des Lebens, der Welt, des Universums. Bleiben Sie in Bewegung. Gönnen Sie sich Auszeiten, regelmäßig, in denen Sie sich mit schönen Dingen – Musik, Kunst oder Literatur – befassen, die Sie innerlich aufrichten und mit frischer Energie aufladen. Bleiben Sie nicht allein, lassen Sie sich helfen, wenn Sie Hilfe brauchen. Pflegen Sie Beziehungen und Freundschaften (insbesondere in Zeiten wie diesen, in denen unmittelbare Begegnungen ausgeschlossen oder aber schwierig sind). Teilen Sie Ihre Welt mit anderen, Sie werden sehen, es macht Sie reicher. Kurzum: Bilden Sie sich aus, werden Sie der Mensch, der nur Sie sein können. Sie können das.

Weg mit der Work-Life-Balance!

Dass es so möglich wäre – jeden Tag möglich wäre – ein anderes, erfüllteres, ausgeglicheneres, intensiveres, beglückenderes Leben zu leben, in dem ich mir höchstpersönlich, meinem inneren und eigentlichen Selbst wieder näherkomme, geht in den Routinen und der andauernden Geschäftigkeit unseres Alltags und seiner Ansprüche zumal am Arbeitsplatz leicht unter. Aber unser Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen und im eben beschriebenen Sinn aktiv zu steuern, für sich selbst einen Plan zu haben, einem Kurs zu folgen und innerem Kompass, sich nicht einfach treiben zu lassen im Strom von Sorgen und unablässig dahin fließenden Sekunden, Stunden und Tagen, die Kontrolle zurückzuerlangen, leben, statt gelebt zu werden, den Dingen ihren jeweils perfekten Platz zuzuweisen, das wär dann aktive Selbstfürsorge und, wenn man es so nennen will, keine Work-Life-Balance, sondern echte Worry-Life-Balance (ein Gleichgewicht aus berechtigten, notwendigen und angemessenen Sorgen und unbekümmerter Lebenslust). Was für eine vortreffliche Aussicht auf ein neues Jahr, das von alten Gewohnheiten noch weitgehend unberührt ist.

Wie auch immer Sie also den Jahreswechsel persönlich erlebt haben, eine stimmige Worry-Life-Balance wäre, glaube ich, der Schlüssel für ein wirklich gutes neues Jahr 2021. Dass Sie die finden, wünsche ich Ihnen. Wenn das gelingt, glaube ich, werden wir zu mutigen und uns gegenseitig ermutigenden Menschen, die gemeinsam etwas schaffen, ohne das keiner von uns Leben kann: Vertrauen in eine gute Zukunft, in der für jede und jeden von uns gesorgt sein wird.

Es grüßt Sie herzlich
Ihr Ulrich Peters


Hier können Sie sich die Rede persönlich gesprochen von Ulrich Peters anschauen