Elisabeth Raffauf über den Mut zum Erziehen
Warum viele Menschen in ihrer Rolle als Eltern hadern und warum das nicht sein muss. Unsere Autorin und Diplom-Psychologin Elisabeth Raffauf im Gespräch
Interview Ratgeber Kindererziehung FamilieLebe gut: Frau Raffauf, Sie haben im Laufe von 20 Jahren Ihrer Tätigkeit bei einer Erziehungsberatungsstelle sicherlich sehr viele Familien erlebt und beraten. Über den Daumen, was denken Sie, wie viele waren es ungefähr?
Elisabeth Raffauf: Schwer zu sagen, mehrere Hundert auf jeden Fall.
Lebe gut: Haben Sie über die lange Zeit hinweg eine Verlagerung bestimmter Problemschwerpunkte beobachtet? Was war etwa vor 10 oder 15 Jahren ein besonders häufig geschildertes Problem, das heute eher in den Hintergrund getreten ist?
Elisabeth Raffauf: Das Thema »Schule« ist immer noch ein großes Thema. Aber davor stehen heute die Themen »Respekt« und »Medienkonsum« und die Frage, wie Eltern und Kinder einen guten Kontakt haben können.
Lebe gut: Hat sich die Problematik des »Nicht-Erziehens«, dass also Eltern ihre Verantwortung als Erziehende nicht wahrnehmen, oder gar der Parentifizierung der Kinder in dieser Zeit verschärft?
Elisabeth Raffauf: Das kommt drauf an, warum Eltern nicht erziehen. Die Tatsache, dass Eltern in Not geraten und deshalb als Erziehungspersonen ausfallen, gab es natürlich schon immer. Was zugenommen hat, ist der Perfektionismus in der Gesellschaft. Der Druck auf die Eltern, dass alles toll sein soll, eben auch die Kinder. Gleichzeitig sind, über einen größeren Zeitraum gesehen, die Familien kleiner geworden, oft ist es ein Erwachsener und ein Kind – dann passiert es eben, dass die ganze Verantwortung auf dem Erwachsenen und eben auf dem Kind lastet. Viele Kinder fühlen sich zuständig für das Glück der Erwachsenen und sie fühlen sich verantwortlich für sie oder den Zusammenhalt der Familie. Das ist natürlich absolut überfordernd.
Lebe gut: Hat sich Ihre eigene Wahrnehmung der Thematik während der Recherche zu Ihrem Buch »Erzieht uns einfach!« verändert? Wenn ja, inwiefern?
Elisabeth Raffauf: Ja, mir ist vor allem aufgefallen, wie viele heutige Erwachsene wiederum mit zu viel Verantwortung für ihre Eltern aufgewachsen sind und wie das immer noch auf ihnen lastet. Wenn sie es nicht reflektieren, geben sie es möglicherweise unbewusst an ihre Kinder weiter.
Lebe gut: War dies für Sie der Anlass Ihr aktuelles Buch zu schreiben?
Elisabeth Raffauf: Der Anlass waren unter anderem Bemerkungen von Kindern und Jugendlichen, die in die Beratungsstelle kamen und uns gebeten haben, den Eltern zu sagen, wie sie sie erziehen sollen. Kinder und Jugendliche, die verwirrt sind, weil sie nicht wissen, was die Eltern wirklich denken. Kinder und Jugendliche, die selbst ihre Eltern auffordern, ihnen Orientierung und Klarheit zu geben und ihre Verantwortung als Eltern zu übernehmen.
Lebe gut: Welche Rolle spielte dabei die Fridays for Future-Bewegung, in der die Kinder und Jugendlichen versuchen, die eigentlich Verantwortlichen, nämlich die Erwachsenen, zur Vernunft und zu verantwortungsvollem Handeln zu bringen?
Elisabeth Raffauf: Eine große. Sie haben ja den Slogan geprägt: Macht es wie eure Kinder, werdet erwachsen. Das bezieht sich natürlich auch auf politisches Handeln, aber eben auch auf jeden Einzelnen. Und es ist genau die Umkehrung der Verhältnisse: Die Kinder sorgen sich, aber sie sollten sich nicht sorgen. Das müssen sie auch nicht in dem Maße, wenn sie sicher sein können, dass die Erwachsenen sich kümmern, wenn es nötig ist.
Lebe gut: Was würden Sie sagen, was vor allem hält Eltern davon ab, ihre Kinder zu erziehen?
Elisabeth Raffauf: Mehreres. Ich nenne mal drei Gründe: Manche Erwachsene haben Angst, dass sie die Liebe des Kindes verlieren, wenn sie einen Standpunkt beziehen, den die Kinder in dem Moment doof finden. Manche fühlen den Druck perfekt sein zu müssen, ein »vorzeigbares« Kind zu haben. Sie denken, sie dürften keine Fehler machen. Andere sind selbst in so großer Not, dass sie es nicht mehr schaffen in ausreichendem Maße auf die Kinder zu schauen. Etwa durch Krankheiten, Arbeitslosigkeit, Trennungen und so weiter.
Lebe gut: Wenn Sie Eltern einen Satz zum täglich Beherzigen, sozusagen »für die Kühlschranktür«, mitgeben sollten, welcher wäre das?
Elisabeth Raffauf: »Wenn für Sie die Liebe zu ihrem Kind unverbrüchlich ist, seien Sie sicher, für Ihr Kind ist es auch so, selbst wenn es Sie gerade richtig doof findet.«