Leben im Hier und Jetzt

Wie ihn seine neue Lebensphilosophie veränderte und was ihm half, mit seinen Depressionen und Ängsten klarzukommen: Ein ehrliches Interview mit Sebastian Keck.

Interview Lebenskrise Familie

Lebe gut: Wie lebst du heute?
Sebastian Keck: Alles, was war, war, und alles, was kommen wird, kommt. Ich erlernte im Hier und Jetzt zu leben und diese neue Lebensphilosophie wirkt sich auch auf meine Arbeit aus. Das Leben im Hier und Jetzt – ein Konzept, das oft zitiert, aber selten tief verinnerlicht wird. Ich selbst hätte früher nicht geglaubt, wie sehr diese Haltung mein Leben verändern würde. In einer Welt, die von Hektik, To-Do-Listen und Zukunftsängsten geprägt ist, erschien mir die Idee, vollständig im Moment zu sein, wie eine utopische Vorstellung. Doch als ich mich auf diesen Weg begab, erkannte ich, dass das Leben im Hier und Jetzt nicht nur ein philosophisches Ideal ist, sondern eine konkrete Praxis, die mein persönliches und berufliches Leben transformiert hat.

Lebe gut: Wie bist du auf diesen Weg gekommen?
Sebastian Keck: Der Wendepunkt kam für mich in einer Zeit, die von Stress und Überforderung geprägt war. Mein Alltag war dominiert von der Jagd nach Zielen und dem ständigen Gedanken an das, was noch zu erledigen war. Ich merkte, dass ich zwar funktionierte, aber nicht wirklich lebte. Es fehlte mir an Freude, an Energie und an echter Verbindung zu mir selbst und meiner Umgebung. Durch Meditation, Achtsamkeitsübungen und das bewusste Reflektieren meiner Gewohnheiten begann ich langsam zu verstehen, was es bedeutet, bewusst im Moment zu verweilen, ihn wahrzunehmen und zu würdigen.

Kleine Freuden wahrnehmen

Lebe gut: Was hatte das für Auswirkungen auf dein Leben?
Sebastian Keck: Diese neue Lebensweise brachte eine Reihe von Veränderungen mit sich. Ich wurde geduldiger mit mir selbst und anderen, begann Stresssituationen mit mehr Gelassenheit zu begegnen und spürte, wie sich eine innere Ruhe in mir ausbreitete. Kleine Freuden des Alltags – das Lächeln eines Fremden, der Duft eines Kaffees oder das Rauschen der Bäume im Wind – gewannen eine neue Bedeutung. Die größte Veränderung war jedoch, dass ich anfing, mich selbst und meine Umgebung bewusster wahrzunehmen. Ich lernte, meine Gedanken zu beobachten, ohne von ihnen überwältigt zu werden, und meinen Fokus auf das zu richten, was gerade geschieht, anstatt in Sorgen oder Planungen zu versinken.
 

Lebe gut: Was für einen Einfluss hat das auf deine Arbeit?
Sebastian Keck: Diese Lebensphilosophie hat nicht nur meine persönliche, sondern auch meine berufliche Perspektive verändert. In meiner Arbeit – die zuvor oft von Deadlines, Multitasking und Leistungsdruck geprägt war – begann ich, eine andere Haltung einzunehmen. Ich merkte, dass ich effektiver bin, wenn ich mich ganz auf eine Aufgabe konzentriere, anstatt gedanklich zwischen unzähligen Dingen zu springen. Das bewusste Arbeiten fördert nicht nur meine Produktivität, sondern auch die Qualität meiner Ergebnisse.

Achtsamkeit und Wertschätzung im beruflichen und privaten Raum geben

Lebe gut: Wie darf man sich das konkret vorstellen?
Sebastian Keck: Durch das Leben im Hier und Jetzt bin ich achtsamer im Umgang mit Kollegen und Kunden geworden. Ich höre besser zu, nehme ihre Anliegen bewusster wahr und reagiere mit mehr Empathie und Klarheit. Anstatt mich von Problemen überwältigen zu lassen, sehe ich sie als Herausforderungen, die ich Schritt für Schritt angehen kann. Mein Fokus auf den Moment hilft mir, Prioritäten zu setzen und Lösungen zu finden, ohne mich von der Hektik anstecken zu lassen. Indem ich mich auf den Prozess und nicht nur auf das Ergebnis konzentriere, habe ich gelernt, meine Arbeit mehr zu schätzen. Selbst Routineaufgaben, die mir früher lästig erschienen, haben nun eine neue Bedeutung bekommen, da ich sie mit Achtsamkeit und Wertschätzung angehe. 

Lebe gut: Wie kann man es lernen, die Dinge so zu sehen und anzugehen?
Sebastian Keck: Das Leben im Hier und Jetzt ist keine Fähigkeit, die man einmal erlernt und dann perfekt beherrscht. Es ist ein fortlaufender Prozess, der Übung und Bewusstsein erfordert. Immer wieder finde ich mich dabei, in alte Muster zu verfallen – aber der Unterschied ist, dass ich diese Momente nun erkenne und bewusst gegensteuern kann. Meine neue Lebensphilosophie hat mich nicht nur zu einem zufriedeneren Menschen gemacht, sondern auch dazu beigetragen, dass ich meine Arbeit mit mehr Hingabe und Authentizität ausübe. Letztlich hat mich das Leben im Hier und Jetzt gelehrt, dass jeder Moment, egal wie banal oder herausfordernd er erscheint, ein Geschenk ist, das gewürdigt werden will – sowohl privat als auch beruflich.

Die Angst »zulassen«

Lebe gut: Was passiert dir beim Aufwachen?
Sebastian Keck: Oft eine kurze, kalte Angst.

Lebe gut: Warum lässt du diese Angst in dich rein?
Sebastian Keck: Ich habe sie manchmal fast akzeptiert und weiß nicht, ob das der beste Weg ist, sie wieder rauszulassen. Zumindest Therapeuten behaupten das.

Lebe gut: Wie fühlt sich diese Panik an?
Sebastian Keck: Gedanken fallen mir auf den Kopf wie harte Hagelkörner. Sie peitschen mich aus. Ich halte mir die Hände auf den Kopf, aber das langt nicht. Ich stehe auf einem großen weiten Feld, kein Baum, kein Unterschlupf in Sicht. Es tut einfach nur weh. Es hämmert auf mich ein ohne Unterlass. Es wird immer stärker und härter und größer. Die Körner haben mittlerweile die Größe von Pingpong Bällen.

Lebe gut: Hast du nichts gelernt?
Sebastian Keck: Ich glaube schon. Ich gerate weniger in diese Gewitter. Ich kenne die Abfolge und oft die Auslöser. Es kann mir aber immer wieder passieren, dass es einfach so kommt und ich in dem Moment überrascht bin und nicht ruhig reagieren kann.

Erkennen, wer man ist

Lebe gut: Wer bist du? 
Sebastian Keck: Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man erkennt, dass das, was man hat, was man ist oder zu sein glaubte, auf einer Lüge beruht.

Lebe gut: Das beantwortet meine Frage nicht!
Sebastian Keck: Ich weiß heute zumindest, wer ich nicht bin. Wer ich bin, versuche ich immer noch jeden Tag aufs Neue herauszufinden. 

Lebe gut: Warum ist das so schwierig bei dir?
Sebastian Keck: Ich glaube, diese Schwierigkeit hat jede und jeder, die oder der an einen bestimmten Punkt kommt, wo man sich beginnt zu hinterfragen. Ab diesem Punkt kann man nur noch gewinnen. 

Lebe gut: Was ist Freiheit?
Sebastian Keck: Taumelnd schweben wir nach draußen. Die Idee von Freiheit ist schön. Angenommen wir setzen uns auf den Balkon. Den ganzen Tag nur so. Ohne eine Beschäftigung, ohne eine Ablenkung. Mit nichts als Freiheit. Für viele der blanke Horror. Gefangen in einem System, das uns 24/7 zerstreut. Keine Sekunde können wir ruhig stehen, nur mit uns sein. Wer hat uns das beigebracht? Oder was haben wir verlernt? Viele nennen es die Leere, aber ist es das? Allein zu sein, nur mit unseren Gedanken. Ist es nicht die reine, absolute Freiheit, ohne Abhängigkeiten. Ich beobachte Menschen, die in Gesprächen in bestimmten Intervallen ihr Handy zücken, es ist ein Zwang, das Gegenteil von Freiheit.   

Die verschiedenen Gesichter einer Depression

Lebe gut: Wie konnte Dir all das eigentlich passieren?
Sebastian Keck: Ich weiß bis heute nicht, wie eine Depression so lügen kann, wie sie solche falschen Tatsachen vorgaukeln kann. Wie konnte so ein Schatz wie meine Tochter verborgen bleiben. Wie konnte ich so getäuscht und manipuliert werden, dass ich nicht begriff, dass da ein Wunder vor mir lag. Dieses kleine Wesen, das jeden Tag wächst und mir immer ähnlicher sieht. Es kann so wunderschön sein, Kinder zu haben. Es kann aber auch die totale Überforderung darstellen, wenn du darauf nicht vorbereitet bist und mit vorbereiten meine ich nicht diese Kurse von unterbezahlten Hebammen, die euch vier Stunden in Geburtsvorbereitungskursen auf die Geburt vorbereiten, sondern die Art von Vorbereitung, dass da ein völlig hilfloses Wesen vor dir liegt und zu einhundert Prozent von dir abhängig ist. Die Verantwortung für ein Leben zu tragen und damit umzugehen, dass du von nun an bis an dein Lebensende für diesen Menschen verantwortlich bist. 

Lebe gut: Kannst Du das etwas näher erläutern?
Sebastian Keck: Wir schämen uns, wenn wir nicht richtig funktionieren. Es ist wahnsinnig schwierig jemandem zu erklären, wie sich eine Depression oder Angststörung anfühlt. Es ist in etwa so, als würde man einem Alien das Leben auf der Erde erklären. Insofern können Menschen nicht verstehen, dass du nicht 24 Stunden voller Glücksgefühle bist, wenn du ein Kind bekommst. Dass jemand krank vor Angst um sein Kind wird, ist vielen unverständlich. Sie bezeichnen mich als verantwortungslos, als keinen Mann. Denen möchte ich erwidern: Zieht ihr ruhig eure Kinder in dieser Gefühlskälte groß, mir ist es lieber, es passiert etwas so Schlimmes mit mir und ich kann danach meiner Tochter die Liebe geben, die sie braucht.

Recht auf »echte« Gefühle

Lebe gut: Wie würdest Du den Unterschied zwischen »Davor« und »Danach« beschreiben?
Sebastian Keck: Mein Leben davor erscheint mir heute sehr beschränkt. Es war wie eine Kapsel. Diese wunde, nackte Seele liegt offen da. Unbeschützt. Die Kapsel oder dein Panzer schützt dich. Lässt aber auch nicht die Intensität guter Gefühle zu. Ich war nach beiden Seiten limitiert. Mein Opa starb. Keine Träne. Meine Tochter kam zur Welt. Keine Träne. Die Depression und die Angst sind ein verdammt hoher Preis. Aber diesen Preis würde ich jederzeit wieder bezahlen mit Zinsen und Zinseszinsen. Das bin ich dann tatsächlich meiner Tochter schuldig. Sie hat ein Recht auf Authentizität. Sie hat ein Recht auf echte Gefühle. Die bringt sie, die bringe jetzt ich. Den coolen Typen davor kannte sie gar nicht. Den kannte sie nie. Der war plötzlich weg mit ihrer Geburt. Und den kenne ich nicht mehr. Lichtjahre liegen dazwischen. Ich bin angreifbar, nach allen Seiten offen.

Lebe gut: Muss man die Hölle willkommen heißen, um das Wunder zu erleben?
Sebastian Keck: Es ist ein Wunder, dieses kleine Köpfchen zu sehen, dass bei einer Geburt plötzlich da ist und deine Hilfe braucht, dir einfach so Liebe und Zuneigung schenkt, dein Leben komplett auf den Kopf stellt. Wenn du dieses Glück nicht begreifst und es dich aus der Bahn wirft, gehört es vielleicht dazu, auf null zurück zu gehen, alles auf Anfang zu stellen. Woher ich komme, wer ich bin und wohin ich möchte, wurde in Windeseile neu codiert. Diesen Code zu lesen bedarf es einer tiefen Einsicht, die nicht einfach durch Anpassung zu bewältigen war, aber das war wahrscheinlich auch nicht Sinn der Sache. Diese Talfahrt in Höchstgeschwindigkeit zu durchfahren, hätte auch wenig gebracht. Wenn es also nur so funktioniert, kann ich nichts Anderes tun, als mich zu wappnen und dieses Schicksal anzunehmen. 

Lebe gut: Was nimmst du mit aus der Zeit deiner Depression, was ist dir wichtig geworden?
Sebastian Keck: Ich glaube fest an Fügung und den Sinn hinter diesem Schlag. Es wirkt. Ganz langsam. Nachhaltig. Mit einem festen Fundament, das allen Stürmen, Fluten und Orkanen standhält. Entgegen diesen schnelllebigen Schnellschuss-Zeiten. Ich will lesen, sehen, hören, was mich zum Weinen oder Lachen bringt, was mir einen Schlag versetzt oder mich umarmt, was mir Hoffnung gibt oder Angst macht. Für Mittelmäßigkeit, Monotonie und mich-nicht-berühren, habe ich keine Zeit mehr. Ich will leben. Diese 30.000 Tage sind zur Hälfte vorbei. Den Rest werde ich nicht runterspulen wie ein Pflichtprogramm. So intensiv wie die letzten Jahre muss es wegen mir nicht sein. Das Neue wird mich treiben. Ich lege mein Ohr auf meine Seele. Die Angst wird mein stetiger Begleiter bleiben. Und das ist gut so. Ich denke, sie wird mich dieses Mal warnen. Ich darf mich nicht mehr abwenden. Ich muss nah am Leben bleiben. Nah an Emotionen, nah an Freunden und nah am Schreiben.

Über den Autor

© FTGRF Gordon Koelmel

Sebastian Keck

Sebastian Keck, geboren 1978, war erfolgreicher Musiker und Mitglied der Hip-Hop-Band »Freidenker«, die bei Herbert Grönemeyer und dessen Label Grönland Records unter Vertrag stand. Seit 2008 ist er Inhaber und Geschäftsführer einer Werbeagentur, Dozent für Werbetext, Werbetexter und Autor (Debüt: »Meine beschissene Angst und ich«). Er lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in Stuttgart.
www.sebastiankeck.de 


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