Lebendiges Judentum in Deutschland: Modern aus Tradition

Rabbiner Walter Homolka ist Rektor des ersten Rabbinerseminars in Deutschland nach der Schoa, Professor für jüdische Theologie und Vorsitzender der Union progressiver Juden in Deutschland. Im Interview spricht er über Gegenwart und Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland

Interview Aktuelles Gesellschaft Verantwortung

Lebe gut: Rabbiner Homolka, im Jahr 2021 leben Jüdinnen und Juden nachweislich seit 1700 Jahre in deutschsprachigen Gebieten. Eine Initiative »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« will mit Veranstaltungen, Projekten und Büchern diesen Sachverhalt ins Bewusstsein rücken. Was bedeutet das Gedenkjahr für Sie?

Ich bin gerne in das Kuratorium dieser Initiative eingetreten und beteilige mich auf vielerlei Weise an der Gestaltung des Programms. Dazu gehört auch das Buch »Modern aus Tradition«. Es wirft ein Schlaglicht auf einen bedeutenden Abschnitt der jüdischen Geschichte in Deutschland. Hier ist vor 250 Jahren das liberale Judentum entstanden, um 1850 aber auch die Orthodoxie als Antwort darauf. Die jüdische Gesellschaft war niemals homogen und ließ sich in keine feste Form zwingen. Es gab auch lange vor der jüdischen Aufklärung bereits Kontroversen bei der Auslegung jüdischen Rechts, der Gewichtung von Frömmigkeit und rationalem Denken und der Pflege unterschiedlicher Traditionen und Bräuche. Schon die biblischen Propheten waren mit ihren Angriffen auf veraltete Bräuche und Vorstellungen Erneuerer des Judentums. Wandel ist konstitutiv für das Judentum. Davon erzählt auch unser Buch.

Lebe gut: Zusammen mit Hartmut Bomhoff und Heinz-Peter Katlewski haben Sie dieses Buch geschrieben. Es belegt die Lebendigkeit des liberalen Judentums in Deutschland heute in Text und Bildern. Was ist Ihre Erwartung für die Zukunft jüdischer Gemeinden in Deutschland?

Von Deutschland ausgehend hat sich das liberale Judentum weltweit zur größten religiösen Strömung innerhalb des zeitgenössischen Judentums entwickelt. Seit 25 Jahren gibt es auch in Deutschland wieder eine rege Entwicklung durch den Zusammenschluss liberaler Gemeinden in der »Union progressiver Juden in Deutschland«. Als diese 2007 in Berlin ihr 10-jähriges Bestehen feierte, befand der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble in seinem Grußwort, dass die Gründung der Union progressiver Juden in Deutschland sowohl Zeichen eines wachsenden, vielfältigen jüdischen Lebens sei, zugleich aber auch ein Rückgriff auf die Geschichte: »Das Wiederanknüpfen an eine große Tradition, deren Ursprünge im 18.und 19. Jahrhundert hier in Deutschland zu finden sind und deren Ideen sich rasch über die Grenzen Deutschlands ausbreiteten«. Seit 2015 ist die Union nun Körperschaft des öffentlichen Rechts. Es ist neues Selbstbewusstsein und neue Zuversicht entstanden.

Lebe gut: 1999 haben Sie zusammen mit Rabbiner Walter Jacob das Abraham Geiger Kolleg als An-Institut der Universität Potsdam gegründet. Hier werden heute Rabbinerinnen und Rabbiner, Kantorinnen und Kantoren für liberale jüdische Gemeinden in ganz Europa ausgebildet. Was ist das Besondere der Rabbinatsausbildung dort?

Wir stellen uns am Abraham Geiger Kolleg der Frage: Gibt es eigentlich die eine Form einer Religion, unangefochten durch andere Daseinsformen? Wer mit Pluralisierung nicht zurechtkommt, für den tun sich zwei akute Gefahren auf: der Verfall in Populismus oder in Fundamentalismus. Beide sind Rückgriffe, Rekonstruktionen des bereits unwiederbringlich Verlorenen. Um die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft zu sichern, braucht es vor allem jüdische Bildung und Erziehung durch charismatische Lehrer und Lehrerinnen, Rabbiner und Rabbinerinnen. Mit den Worten von Rabbiner Walter Jacob: Es geht um die Fähigkeit, »eine jüdische Welt zu schaffen und zu denken, die uns mit der Vergangenheit verknüpft, aber bereit ist, eine Zukunft anzunehmen, die wir uns noch nicht vorstellen können«.

Lebe gut: Seit 2013 ist das Studium jüdischer Theologie an der Universität Potsdam als »School of Jewish Theology« eingerichtet und damit gleichberechtigt mit den Fakultäten für katholische und protestantische Theologie an staatlichen Universitäten in Deutschland. Eine überfällige Entwicklung?

Schon 1836 hat Rabbiner Abraham Geiger die Gleichberechtigung der Ausbildung zum jüdisch-geistlichen Amt mit der der christlichen Kirchen gefordert. Für Abraham Geiger war Jüdische Theologie als Universitätsfach der Test, ob die jüdische Emanzipation gelungen sei. Die von ihm 1872 mitbegründete »Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums« in Berlin war damals allerdings kein Bestandteil des allgemeinen Universitätswesens. Akademischen Disput auf gleicher Ebene hat es im Verhältnis von Judentum und Christentum hierzulande leider nie gegeben. Dabei wäre die Universität und ihre Lehr- und Gedankenfreiheit der Ort gewesen, Trennendes und Gemeinsames zu diskutieren. 2013 war es endlich soweit: Jüdische Theologie wurde ein Universitätsfach. Insofern war es überfällig. Und es liegt noch ein langer Weg vor uns. Die Dinge brauchen Zeit.

Lebe gut: Sie sind Vorsitzender der »Union progressiver Juden in Deutschland«, einer Körperschaft des öffentlichen Rechts und damit mit ähnlichem Status wie die Kirchen in Deutschland. Wie sehen Sie den gegenwärtigen Stand des christlich-jüdischen Dialogs?

Wir sind in den letzten 7 Jahrzehnten ein weites Stück vorangekommen. Aber jede Generation muss neu mit den Einsichten der Altvorderen bekannt gemacht werden. Das Buch »Modern aus Tradition« soll zeigen, dass auch im Judentum der Schritt in die Moderne vollzogen wurde. Die Wiener Philosophin Isolde Charim macht uns das bewusst: Das Kennzeichen der Moderne heute sei nicht etwa der Rückgang der Religiosität, sondern vielmehr deren Veränderung – eine Veränderung durch Pluralisierung. Aus den Wechselbeziehungen zwischen Judentum und Kirche ergaben sich immer wieder sowohl Abgrenzungen, angefangen beim rabbinischen Judentum und dem frühen Christentum, als auch kulturelle Anleihen. Auf diesem Erbe stehen wir, wenn wir aktuell ins Gespräch kommen. Zum Dialog gehören das Verstehen, woher man kommt, und das kritische Reflektieren der eigenen Tradition. Mir fehlt es auf der christlichen Seite allerdings an Kenntnisnahme der und Respekt vor den enormen Leistungen liberaler Rabbiner durch zwei Jahrhunderte, mit dem Christentum substantiell in das Gespräch einzutreten. Erwünscht wäre eine christliche Wertschätzung für die aufgeklärten Formen des Judentums. Stattdessen gibt es christlicherseits ein unüberwindbares Verlangen nach Judentum als Folklore. Da bleibt so manches zu tun.


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Walter Homolka

Walter Homolka

Dr. Walter Homolka ist Rabbiner und Professor für Jüdische Theologie mit Schwerpunkt Dialog der Religionen an der School of Jewish Theology der Universität Potsdam. Er ist Chairman der Leo Baeck…

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