»Er möge wie ein Palmbaum blühen« – Martin Walser zum 95. Geburtstag
Martin Walser gehört zu den prägenden Autoren Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Für sein literarisches Werk erhielt er international zahlreiche Preise und Ehrungen. Am 24. März 2022 feiert er seinen 95. Geburtstag. Arnold Stadler würdigt den Schriftsteller.
Aktuelles Gesellschaft»Das Leben ist schön. Und der Mensch ist kein Baum und hat auch keine Wurzeln, sondern Vater und Mutter, die einen Sohn bekamen, den sie Johann Martin tauften. Das war in Wasserburg. Vor über 90 Jahren wurde noch der Namenstag, der den Geburtstag mit der Taufe verbindet, gefeiert, ich weiß es von ihm selbst. So war es überall in der katholischen Welt vor der Happy-Birthday-Zeit. Heute feiern selbst Päpste ihren Geburtstag, und die Omas singen längst ›Happy Birthday‹. Wir leben in der Happy-Birthday-Zeit. Die unverwechselbare Welt verschwindet so langsam in der Globalisierungskelter. Walser erblickte das Licht der Welt an einem See. Sodass dieses Wasser, als wär’s ein Stück von ihm, Teil dieses Lebens ist. Und als wäre es nicht genug, hieß der Ort auch noch Wasserburg … Berühmt ist einer dann, wenn er gar nicht mehr alles mitbekommt, was über ihn in der Zeitung steht. Oder in den Radio und TV gesendet wird. Und keine Zeit hat, das alles zu sehen und zu lesen, was über ihn geschrieben wird.
Die Geburtstage wurden und werden gefeiert … Dieses Gefeiertwerden ist auch etwas Schönes. Es zeigt die Verbundenheit des Sees mit Walser. Dem die Verbundenheit Walsers mit diesem See vorausgeht. Doch: Öffentlichkeit und ›Licht der Welt‹, Rampenlicht und Heimat: Das beißt sich irgendwie. Manches Geburtstagskind überlegt sich, wohin es fliehen könnte. ›Wenn i bloß ge Amerika wär!«, vielleicht dachte das Geburtstagskind im Zusammenhang mit diesen Feierlichkeiten an diesen Satz, den es neben seinem Großvater hergehend hörte. Das ist ein Herzsatz aus Walsers Leben. Später war Martin Walser oftmals in Amerika, als hätte er stellvertretend für seinen Großvater dessen Traum: ›Wenn i bloß ge Amerika wär!‹ realisieren wollen.
Nach außen hin Wohlfühlregion Nummer eins, der See, das Land, die Nähe der Berge, für die meisten nun ein Tummelplatz für Aktivitäten im Outdoorsegment. Walser ist selbst Ski gefahren, hat Tennis gespielt und all das getan, was der sogenannte Bürger tut, der es sich leisten kann, schwamm und schwimmt in diesem See wie kein anderer. Und lebte und atmete wie die anderen. Der Schmerz und die Sehnsucht und alle Einschränkungen des Lebens kommen aber in den Wohlfühlstatistiken nicht vor. Das erscheint dann in Walsers Büchern und Sätzen … Walser ist unsere erste Sprachschmerzinstanz. Und macht aus seiner Erinnerung eine schmerzhafte, nein: schmerzreiche Gegenwart.
Martin Walser war ein Kind, das das Glück hatte, einen … Vater zu haben, der ihm, statt etwas anderem, einen Wörterbaum errichtete, der bis zum heutigen Tag seine Früchte trägt, und ich möchte aus Psalm 1 ergänzen: ›ut palma florebit‹, er wird wie ein Palmbaum blühen.«
Arnold Stadler