Paris, Nizza, Wien, Dresden – Michael Blume über die Hintergründe der Attentate
Wie es uns gelingen kann, Menschen trotz aller Verunsicherungen durch Umwälzungen, Krisen und Pandemien dabei zu helfen, dennoch nicht im Verschwörungsglauben zu versinken. Religionswissenschaftler Michael Blume im Interview
Interview Aktuelles Gesellschaft VerantwortungWarum der radikalisierte politische Islam kein Ausdruck von Stärke, sondern von innerer Krise ist
Lebe gut: Herr Blume, Paris, Nizza, Wien und Dresden: Europa wurde wieder erschüttert von Terrorakten, verübt von Tätern aus der Gesinnung eines dschihadistischen, radikal politischen Islam heraus. In Ihrem Buch »Islam in der Krise« sprechen Sie davon, dass der radikalisierte politische Islam kein Ausdruck von Stärke, sondern von innerer Krise ist. Bleiben Sie bei dieser Analyse?
Michael Blume: Ja, tatsächlich haben sich die Beobachtungen und Prognosen aus »Islam in der Krise« leider voll bestätigt. Auch der französische Staatspräsident Macron sprach nun erstmals von einer »Krise« des Islams. Auf der einen Seite haben wir einen massiven Bildungsrückstand und den Verfall auch religiöser Bindungen, auf der anderen Seite eine Radikalisierung vor allem im Internet. Islamisten tauchen genauso wie westliche Rechtsextremisten in eine bizarre Wahnwelt aus Verschwörungsmythen ab. Sie haben keine gemeinsamen positiven Überzeugungen, sondern nur noch Feindbilder wie Demokratie, selbstbewusste Frauen und eine vermeintliche »zionistische« Weltverschwörung. Sie können nichts mehr bauen, nicht einmal mehr ihr eigenes Leben, sondern nur noch zerstören. Seit einigen Wochen werde ich daher auch wieder verstärkt auf »Islam in der Krise« angesprochen - übrigens auch von Musliminnen und Muslimen. Immerhin.
Lebe Gut: In der Regel weisen Muslime und islamische Verbände in Europa darauf hin, dass solche Terrorakte nichts mit dem Islam zu tun haben. Unsere Medien achten in der Berichterstattung darauf, zwischen »Islam« und »Islamismus« zu unterscheiden, um von vornherein keinerlei unberechtigten Generalverdacht gegen Muslime aufkommen zu lassen. Umgekehrt sind nicht-muslimische Europäer ratlos und fragen, wer innerhalb des Islam die Autorität hat, zwischen legitimen und illegitimen Interpretationen des Islam für die Mehrheit verbindlich zu entscheiden. Wer definiert eigentlich, was »Islam« ist und was nicht?
Michael Blume: Genau das ist das Problem: Praktisch alle früheren, religiösen Autoritäten des Islams stecken in einem Sumpf aus fehlender Bildung und korrupten Bündnissen mit autoritären Regimen. Junge Menschen, die religiöse Antworten suchen, suchen daher zuerst im Internet. Sogar das Satellitenfernsehen, das von Regimen und Parteien beherrscht wurde, hat dagegen verloren. Nun konkurrieren bärtige Halbgebildete mit einfachen Botschaften voller Hass mit wenigen aufgeklärten Musliminnen und Muslimen, die sich noch dazu gleichzeitig an die nicht-muslimische Öffentlichkeit und muslimische Jugendliche wenden müssen. Die Aussage etwa von Verbänden, der Islam habe nichts mit dem Terror zu tun, hilft da natürlich ebenso wenig wie die Behauptung, die Kreuzritter wären keine Christen gewesen. Es gibt leider nur sehr wenige muslimische Autoritäten, die über ausreichend Wissen und Unabhängigkeit verfügen, um der Krise der Religion ehrlich zu begegnen. Auch junge Eltern, die ihre Kinder gerne in eine nicht-extreme Moschee schicken würden, geben die Suche daher immer öfter auf.
Die zunehmend schnelle Entwicklung der Gesellschaft verunsichert jungen Menschen
Lebe Gut: Auffallend ist: Die Täter der jüngsten Mordanschläge sind zwischen 18 und 21 Jahre alt, sehr junge Männer. Sie analysieren die Krise des Islams auch als eine Bildungskrise. Wie kann Bildung vor politischer Radikalisierung schützen?
Michael Blume: Wir wissen, dass formale Bildung alleine nicht vor Verschwörungsglauben schützt – auch Ingenieure und Professoren können üblen Rassismus, Antisemitismus und Fanatismus vertreten. Oft finden sie damit auch große Anhängerschaften. Es kommt darauf an, welche Erfahrungen Menschen in den ersten beiden Lebensjahrzehnten machen, ob sie die Welt und andere Menschen als vertrauenswürdig oder vermeintlich böse kennenlernen.
Das Problem ist, dass gerade auch viele junge Männer mit und ohne Migrationsgeschichte heute oft kaum noch Chancen sehen, mit der schnellen Entwicklung der Gesellschaft, mit Wissen, Freiheiten und zunehmend selbstbewussten Frauen umzugehen. Viele haben schon als Kinder mehr Gewalt und Demütigung als Unterstützung erfahren. Sie sind in den Schulen im Durchschnitt weniger erfolgreich als gleichaltrige Mädchen, versagen oft auch im Vergleich mit den eigenen Schwestern. Nichtmuslime träumen sich dann gerne in einen Nationalismus oder in den USA auch in einen evangelikalen Fundamentalismus zurück, unter Muslimen bieten sich Salafisten, Al-Qaida und der sehr digital aktive, sogenannte »Islamische Staat« an. Auch wenn es schmerzhaft ist, muss ich daran erinnern, dass sowohl der Attentäter von Wien wie auch die Attentäter des 11. September 2001 im deutschsprachigen Europa aufgewachsen sind.
Lebe Gut: Eng verbunden mit dem Thema Bildung und Rationalität ist die erschreckende Bedeutung, die alte Verschwörungsvorstellungen durch die neuen sozialen Medien erhalten. Gerade in der Corona-Krise wird dieser unheilvolle Einfluss von Verschwörungsmythen bei ganz anderen Bevölkerungskreisen deutlich. Sie schreiben in Ihrem Buch, dass im Zentrum des radikalisierten Islam nicht der »Eine Gott« wie im traditionellen religiösen Glauben steht, sondern das »Eine Böse« einer Weltverschwörung gegen den Islam. Wie erreicht man Menschen, die an die Stelle belegbarer Fakten Verschwörungsfantasien setzen?
Michael Blume: Tatsächlich geht es im Kern um Liebe und Seelsorge. Und, ja, gerade in der Corona-Pandemie merken wir, wie viele Menschen - gerade auch Männer - angesichts realer Gefahren und Ängste in Verschwörungsglauben zurückfallen. Das nach Jahrzehnten von Bildung und Entwicklung in Mitteleuropa! Da können sich alle vorstellen, wie es erst in der arabischen, asiatischen und afrikanischen Welt aussieht, welche Familienbilder, Traditionen und auch Medien Menschen teilweise mit sich bringen.
Der Holocaust-Überlebende und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel hat einmal gesagt: »Wir haben die dunkle Seite des Mondes erforscht, aber nicht die dunkle Seite des menschlichen Herzens.« Und darum geht es im Kern! Wir müssen Menschen helfen, trotz aller Verunsicherungen durch Umwälzungen, Krisen und Pandemien dennoch nicht im Verschwörungsglauben zu versinken. Wir müssten dazu Familien besser unterstützen, Kindergärten und Schulen stärken sowie auch die Erwachsenenbildung verbessern. Außerdem bräuchten wir klarere Regeln und eine Justiz und Polizei, die gegen Extremismus früher und entschiedener vorgehen. Ich erlebe immerhin, dass einige Menschen das durch »Islam in der Krise« tatsächlich besser verstanden haben.
Gibt es eine Alternative zwischen Rückzug oder Fundamentalismus?
Lebe Gut: Anders als zum Beispiel die laizistische Verfassung Frankreichs gilt die deutsche Verfassungsordnung als »religionsfreundlich«. In Deutschland bedeutet die religiöse Neutralität des Staates nicht Distanz, sondern schließt Kooperation und Förderung religiöser Einrichtungen durch den Staat ein. In Osnabrück zum Beispiel startet gerade ein »Islamkolleg Deutschland«, in dem erstmals unabhängig von den muslimischen Verbänden eine Ausbildung von Imamen in deutscher Sprache erfolgen soll, gefördert vom Land Niedersachsen. Was können der Staat und die Bundesländer tun, um einem Islam nach dem Verständnis von Religion und Religionsfreiheit der deutschen Rechtsordnung Entwicklungschancen zu geben?
Michael Blume: Tatsächlich geht es genau darum: Chancen zu geben. Diese Chancen müssen dann aber auch mehr religiöse Musliminnen und Muslime auch ergreifen. Leider erlebe ich es so, dass sich die Mehrzahl der vernünftigen Menschen muslimischer Herkunft längst aus den religiösen Verbänden zurückgezogen hat. Selbst unter jenen in Deutschland Aufgewachsenen, die sich noch selbst als »islamisch« bezeichnen, zählt sich kaum noch ein Fünftel zu einem islamischen Verband. Damit aber verbleibt in den meisten Vereinen eine Vorherrschaft der Traditionalisten und Fundamentalisten, was wiederum die Situation verschlimmert. Und ganz ehrlich gesagt sehe ich inzwischen zunehmend ähnliche Tendenzen in Christentum, Hinduismus und auch Judentum. Mich fordern daher immer mehr Leserinnen und Leser auf, die erfolgreiche Analyse aus »Islam in der Krise« auch für andere Religionen vorzunehmen. Im 21. Jahrhundert wird der Umbruch der Religionen mitten in der Klimakrise eine große Rolle für unsere Zukunft spielen.