Mit leichtem Gepäck läuft es (sich) besser

Warum in sämtlichen Bereichen des Lebens oft weniger mehr ist, und wie man es üben kann, bewusst etwas Wegzulassen und daraus Freiraum zu schaffen. Das erzählt uns Niklaus Kuster im Interview.

Interview Lebensweisheit Achtsamkeit Glück Glaube

Lebe gut: Ein neues Handy, schicke Sneakers, eine Luxusuhr … Für die allermeisten klingt das verlockend – kaufen scheint also glücklich zu machen. Oder etwa doch nicht?

Niklaus Kuster: Shoppingwelten sind faszinierend! Was Menschen mit ihrer Phantasie und Kreativität alles produzieren und anbieten: Nützliches, Schönes, Interessantes! Als Franziskaner shoppe ich selber gerne mit den Augen! Die Quellen meines Glücks liegen weniger im Materiellen und vielmehr in Erfahrungen: Naturerlebnisse, Begegnungen, die eigene Kreativität! Mein Handy hat kürzlich schlapp gemacht. Ich freute mich sehr, dass ein Arbeitskollege sich ein neues kaufte und mir das seine überließ. Nicht mehr ganz neu, ist es noch immer ganz gut!

Ein bisschen weniger von allem – heilsam in vielerlei Hinsicht

Lebe gut: Es geht in Ihrem neuen Buch jedoch nicht allein um Kaufrausch und Konsum. Weniger haben – kann auch in anderen Lebensbereichen und vor allem im Kopf befreiend sein …

Niklaus Kuster: ... in Kopf und Händen, in Räumen, im Terminkalender, in sozialen Medien... Weniger Dinge um mich schaffen mehr Bewegungsraum, weniger Gepäck macht leichtfüßiger, weniger Termine lassen mehr Zeit, weniger Ablenkung macht mich achtsamer und weniger Kontakte kommen tieferen Beziehungen zugute. »Freiheit von« wird dann in verschiedensten Lebensbereichen zur »Freiheit für«. Doch wohlgemerkt: Mein Buch plädiert nicht für Minimalismus!

Weniger macht glücklich

Lebe gut: Weniger haben, so wissen wir nun, kann befreiend sein. Müsste dann aber, ketzerisch gefragt, nicht der Obdachlose unter der Brücke eigentlich der glücklichste Mensch der Welt sein?

Niklaus Kuster: In Zürich mit Obdachlosen arbeitend, habe ich - wie bei Behausten und selbst bei Superreichen - sowohl glückliche wie unglückliche erlebt: Einige haben das Leben auf der Gasse gewählt, genießen ihre spezielle Form von Freiheit, erleben auf ihre Weise Gefährtenschaft, schauen mitleidig auf all die Gehetzten in den Pendlerströmen und finden auch im Schatten der Gesellschaft Licht. Wenn ich selber pilgern gehe, bin ich bewusst ohne Kreditkarte unterwegs, für ein paar Tage auch obdachlos und erfahre dabei mit Improvisationskunst und fast leeren Händen immer wieder eine ungeahnte Lebensfülle.

Leere in »Freiraum« umwandeln kann sehr befreiend sein

Lebe gut: Reduzieren und sich entlasten schafft neue Freiräume. Machen diese Freiräume aber nicht wenigen Menschen auch Angst oder überfordert sie? Nicht umsonst gibt es schließlich den lateinischen Begriff horror vacui – die Angst vor der Leere …

Niklaus Kuster: Was Angst machen kann, ist tatsächlich die Leere: Wenn Vertrautes, Tragendes oder Erfüllendes wegfällt, wird zunächst das Fehlende spürbar. Frisch Pensionierte sind plötzlich ohne Arbeitswelt, die Auflösung einer Wohnung kann mich zum Weggeben vieler liebgewordener Dinge zwingen, Gelenkprobleme streichen Optionen für Freizeit und Urlaub aus dem Programm. Was nun? Wenn ich die Leere in Freiraum wandle, entdecke ich neue Optionen: jenseits von Arbeit, am neuen Lebensort, für Sport und Freizeit. Das gilt auch für bewusste Verzichte, die meinen ökologischen Fußabdruck verkleinern. Phantasievolle entdecken den Reiz regionaler Produkte und von Urlaub ohne Flugreisen!


Lebe gut: Welche Erfahrung in der letzten Zeit war für Sie speziell befreiend? Und mit was füllen Sie Ihre Freiräume besonders gerne?

Niklaus Kuster: Der Pilgerweg von letzter Woche! Ich war, wie jedes Jahr, eine Woche ganz allein unterwegs und wanderte auf der Via Romea Germanica vom Main an die Donau. Sechs Nächte mit 1000-Stern-Luxus in freier Natur und eine gewitterhafte unter einer Plane (eindrücklich!), die Tage unterwegs auf mittelalterlichen Wegen, Kultur aus Jahrhunderten, köstliche Begegnungen, selber ganz Geschöpf unter Geschöpfen und im Licht des Himmels unterwegs. Pilgern ist eine beglückende Art, äußerlich und innerlich ganz frei zu sein! Ich genieße aber auch die Meditationszeiten, die uns im Alltag des »Klosters zum Mitleben« viermal täglich Freiraum bieten. Diesen fülle nicht ich, sondern die Stille erfüllt mich mit dem, was mich innerlich bewegt und belebt.

Dieses Interview ist in unserem Kundenmagazin Herbst 2024 erschienen.

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