Neigen Sie auch zum Perfektionismus?
Allzu oft lassen wir uns von dem Wunsch nach Perfektion leiten, statt nach unseren Bedürfnissen und Werten zu leben. Tom Diesbrock hat ein wunderbares Buch über den Umgang mit dem kleinen Perfektionisten in uns geschrieben
Gelassenheit Lebenshilfe Ratgeber InterviewBefürchten Sie, dass Ihre Leistungen nicht gut genug sind? Glauben Sie, sich noch mehr anstrengen zu müssen? Oder hat Ihnen schon mal jemand geraten, fünfe einfach auch mal grade sein zu lassen? Dann herzlich willkommen in der Welt des »kleinen Perfektionisten«. Er hat sich in unseren Köpfen eingenistet und redet uns ein, die Messlatte immer noch ein kleines Stückchen höher zu legen. Doch je mehr wir uns anstrengen, desto enger wird der Tunnelblick, die Fehlerquote steigt – ein Teufelskreis, der in die Erschöpfung führen kann.
Tom Diesbrock lädt uns mit seinem neuen Buch »Lass mal locker« ein, diesen hartnäckigen Teil unserer Persönlichkeit mal genauer unter die Lupe zu nehmen.
Lebe gut: Sein Bestes zu geben, eine Sache möglichst gut zu erledigen, bewerten wir gemeinhin als positiv, ja sogar erstrebenswert. Wann wird dabei die Grenze zum Perfektionismus überschritten – und was ist das Gefährliche?
Tom Diesbrock: Klar, ein hohes Engagement ist sicherlich etwas Gutes, solange man entscheiden kann, wie sehr man sich wofür reinhängen will – und sich dabei auch mal mit 80 % zufriedengeben kann. Gefährlich wird es, wenn nicht klare Ziele und Wünsche dahinterstehen, sondern vor allem Ängste und Gedanken wie »Ich muss«, »ich kann unmöglich« oder »ich darf nicht«. Dann denken wir nicht mehr differenziert und professionell, sondern nur noch schwarz-weiß, und verlieren unsere eignen Grenzen und Bedürfnisse aus den Augen. Es ist völlig okay, einen hohen Qualitätsanspruch zu haben – Perfektionismus ist aber immer ein Problem!
Lebe gut: Wenn man etwas tatsächlich will, sich also richtig anstrengt, erreicht man auch sein Ziel – bekommt man immer wieder von erfolgreichen Menschen gesagt. Kann das zur Falle bzw. zur Sackgasse werden?
Tom Diesbrock: Ja, solche Sprüche höre ich auch manchmal, aber die sind in meinen Augen esoterischer Quatsch und außerdem gefährlich. Wer so denkt, sieht innere und äußere Grenzen nicht mehr und blendet aus, dass wir nun mal nicht allmächtig sind. Punktuell mag es ja funktionieren, wenn jemand sich so anfeuert. Aber wenn etwas mal nicht so gut klappt – und das geschieht natürlich früher oder später – führt man es darauf zurück, sich nicht genug angestrengt zu haben. Selbst Schuld also! Die Konsequenzen sind oft schlimme Selbstzweifel bis hin zu Depressionen.
Lebe gut: Das hört sich nach einer schwierigen Gemengelage an …
Tom Diesbrock: Ja, da geht es in unseren Köpfen manchmal ziemlich durcheinander! Allerdings spüren dies viele Menschen gar nicht mehr, wenn sie sich von ihrem Perfektionismus steuern lassen. Dann laufen sie stressbedingt auf Autopilot, und ihr Tunnelblick ist so eng, dass sie nur noch ihren Zwang sehen und spüren, alles perfekt und zur Zufriedenheit aller zu erledigen. Und dabei bloß keine Fehler zu machen, weil das eine Katastrophe wäre! So geraten viele Menschen in den Burnout – und erkennen erst viel später den inneren Konflikt zwischen Ansprüchen, Ängsten und den eigenen Wünschen und Zielen.
Lebe gut: Aus kleinen Perfektionisten werden meist große. Wie lässt es sich vermeiden, dass wir – vermutlich unbewusst – unsere Kinder bereits die Bürde des Perfektionismus mit auf den Lebensweg geben?
Tom Diesbrock: Die beste Prophylaxe besteht darin, die eigenen destruktiven Denkmuster zu erforschen und durch differenziertere zu ersetzen. Es ist durchaus sinnvoll, Kinder zu motivieren und darin zu bestärken, Ziele zu erreichen. Das müssen aber immer erreichbare und vor allem abgestufte Ziele sein: Eine 1 ist super, eine 2 aber auch. Und wenn das Kind eine 3 in Physik bekommt, obwohl das nicht gerade das Lieblingsfach ist, muss es auch gelobt werden. Auf keinen Fall sollte man seinen Kids vermitteln, dass es eine Katastrophe ist, wenn etwas schiefgeht. Denn sie müssen ja auch lernen, gut zu scheitern.
Lebe gut: Gibt es Strategien oder Techniken, um dem Teufelskreis des Perfektionismus zu entkommen?
Tom Diesbrock: Zuerst ist es wichtig, die eigene Wahrnehmung für solche destruktiven Denkmuster zu trainieren. Denn erst wenn mir bewusst ist, dass ich gerade mit meiner schwarz-weißen Messlatte unterwegs bin, kann ich etwas ändern. Dann sollte man erforschen, welche Ängste – denn es sind fast immer Ängste – hinter dem Zwang zur Perfektion stecken: Was befürchte ich, wäre die Konsequenz, wenn ich etwas nur halb gut erledige? Stecken die vermeintlichen Erwartungen anderer dahinter? Befürchte ich vielleicht, nicht mehr respektiert zu werden? Dies sind im Grunde kindliche Denkmuster. Wenn ich die erkannt habe, kann ich mir überlegen, was ich als Erwachsener tatsächlich denke und für richtig halte.