#Nevergiveup – Die Schwimmgeschichte von Ruzbeh
Mehr als die Hälfte der Kinder, die die Grundschule verlassen, sind keine sicheren Schwimmerinnen und Schwimmer. Wie wichtig sicheres Schwimmen ist, erzählt uns Ruzbeh, und warum das Schwimmen für ihn der Weg in ein besseres Leben war
Reportage Mut Ermutigung GesellschaftDIe Initiative »Schwimmen für alle Kinder« will Mut machen
»Meine Schwimmgeschichte« ist ein Mut-Mach-Buch, welches aus der Projektarbeit der Initiative »Schwimmen für alle Kinder« entstanden ist. Ziel der Initiative ist es, mehr Aufmerksamkeit für den gesellschaftlichen Missstand der mangelnden Schwimmsicherheit zu generieren.
»Schwimmen für alle Kinder« ist eine ehrenamtliche Initiative, durch die Kinder und Jugendliche aus Familien mit wenig Geld kostenfrei schwimmen lernen können. Zudem werden Nachwuchs-Rettungsschwimmer und -Rettungschwimmerinnen ausgebildet. Sie ist im Förderverein Lokales Bündnis für Familie Tübingen e.V. organisiert und arbeitet mit dem Runden Tisch Kinderarmut zusammen. Die Erfahrungen aus 5 Jahren Projektarbeit in einem multikulturellen Team ließen ein Mut-Mach-Buch entstehen, das zu Schwimminitiativen in ganz Deutschland inspiriert.
Die Initiative setzt sich dafür ein, dass alle Kinder in Deutschland schwimmsicher werden. Laut DLRG sind 59% der Kinder, die die Grundschule verlassen, keine sicheren Schwimmer*innen. Das Buch »Meine Schwimmgeschichte« wird zudem inhaltlich von der DLRG sowie der Stiftung Lesen unterstützt.
Die Geschichte von Ruzbeh
Ruzbeh wurde 1998 in Tonekabon, Iran, geboren. Er flüchtete zusammen mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder 2014 aus dem Iran. Schließlich absoliverte er 2019 das Abitur in Tübingen und studiert seit Herbst 2019 in Stuttgart Fahrzeug- und Motorentechnik. Seit Oktober 2019 arbeitet er als Schwimmlehrer in einer Tübinger Schwimmschule. Hier und im Buch erzählt er nun seine Schwimmgeschichte.
#nevergiveup
»Es war an einem Freitag Ende Juli 2015. Ich saß auf einer Bank im Freibad mit einer großen Tüte Croissants und futterte genüsslich eins nach dem anderen ... Ich war irgendwie glücklich und zufrieden. So, wie man es sein kann, wenn man in einer neuen Welt angekommen ist. Ein buntes Treiben, freundliche Menschen, manche ein bisschen hektisch, Gespräche, die mich nicht erreichten, fremde Laute und Schriften. Nichts Vertrautes, aber ich fühlte mich gut, alles war wohltuend friedlich. Es war kühl.
Auf der Bank neben mir fror ein kleines Mädchen. Eine Frau hatte sie auf dem Schoß, hüllte sie in ein großes Handtuch und versuchte, sie zu wärmen. Die Kleine zitterte, da hielt ich ihr meine Tüte mit Croissants hin. Ihr Vater, der auf einer anderen Bank saß und seinem Sohn beim Schwimmunterricht zusah, erlaubte ihr, ein Croissant zu essen. Auch wenn das kleine Mädchen weiter zitterte, so lächelte sie doch und ich auch. Es ist schön, etwas miteinander zu teilen.
Wir mussten mit ansehen, dass andere Menschen ertranken
Dass ich in einem Freibad saß, hatte etwas Besonderes. Ich sah viele Menschen, die im Wasser planschten, schwammen, sprangen, tauchten. Alle hatten Spaß, viele waren besonders fröhlich. Fröhlich im Wasser ... Es war noch nicht lange her, dass ich mit meiner Familie und einer afghanischen Familie in einem Schlauchboot von der Türkei auf eine griechische Insel gefahren war. Wir konnten nicht schwimmen. Wir hatten Angst, ins Wasser zu schauen, in das tiefe, dunkle Wasser. Es gab mehr Boote als nur unseres, manche Boote haben es nicht geschafft. Wir mussten mit ansehen, dass andere Menschen ertranken, Erwachsene und Kinder ... schreckliche Bilder, die wir alle 3 Jahre lang in unserem Kopf hatten. Meine Mutter hat viel geweint, so kannte ich sie gar nicht. Sie war immer eine starke, fröhliche Mama, aber dann gab es diese Zeit, wo sie so oft und bitterlich geweint hat. Und ich fühlte mich hilflos ...
Nicht aufgeben, sagte ich mir immer wieder, das war schon seit Jahren meine tiefe Überzeugung. Nimm das Leben so an, wie es kommt. Mach das Beste daraus. Meckern bringt nichts, es macht dich nur älter.
Ich kannte die Sprache nicht, nicht die Menschen, schon gar nicht die deutsche Kultur.
Nur ein bisschen Englisch, so konnte ich der Frau neben mir auf der Bank ihre Frage beantworten, ob ich schwimmen könnte. »Yes, I can swim, it’s okay ...« Irgendwie konnte ich mich über Wasser halten.
Aber eigentlich konnte ich nicht schwimmen. Bei uns im Iran am Kaspischen Meer haben wir schöne Strände, aber für mich war das Wasser in der riesigen Menge beängstigend. Schwarzes Wasser. Wir hatten im Iran auch ein Schwimmbad, da war ich immer auf der Nichtschwimmerseite. Ein Freund aus meiner Klasse hatte einen Schwimmkurs und konnte dann gut schwimmen. Ich wollte von ihm lernen, mich über Wasser zu halten und irgendwann hatte ich irgendwie eine Bahn geschafft, das hat mir damals gereicht.
Heute denke ich, das Wasser ist nicht gefährlich, es ist eine reine Übungs- und eine Kopfsache. Und es ist niemals zu spät, schwimmen zu lernen.
Wir brauchten in Deutschland nicht viel, nur erstmal eine Gemeinde, wo wir uns integrieren konnten und wo wir auch neue Freunde finden wollten. Ich habe das der Frau erzählt und auch, dass mein Bruder jetzt schwimmen lernen wird. Als ich ging, sagte ich meinen Namen und Dagmar, die Frau neben mir, wusste schon, dass jemand aus unserer Gemeinde meinen Bruder bereits zum Schwimmen angemeldet hatte. Pooya hatte die Teilnehmernummer 41. Heute sind wir unendlich glücklich über die vielen lieben Menschen, die uns willkommen geheißen haben, die uns Kleidung und Essen gegeben haben, die uns unterrichtet haben und immer mit Rat und Tat für uns da waren. Meine Eltern helfen jetzt bei Veranstaltungen in der Gemeinde mit, sie wollen auf ihre Art etwas zurückgeben, als Dank für so viel warmherzige Unterstützung. Wir sind dankbar für unser neues Zuhause, für unsere neue Heimat. So ist unsere Familie. Wir sagen nicht einfach »tschüss«, sondern wir wollen jetzt auch mithelfen.
Ich wollte mehr als das »größte Seepferdchen« sein
Und ich? Ich war damals beeindruckt von den Leuten im Schwimmbad. Die Bademeister trugen ein weißes T-Shirt mit ihrem Namen und »swt« darauf, das steht für die Stadtwerke Tübingen. Das wollte ich auch, ja, ich wollte auch einmal so ein weißes T-Shirt mit meinem Namen tragen im Freibad.
So wurde ich eine Woche später der Teilnehmer 43 und wurde von Kilian in der Schwimmschule KiWi unterrichtet. Ich wurde mit meinen 1,98 m das »größte Seepferdchen« in dem Schwimmprojekt »Schwimmen für alle Kinder« und ein Jahr später war ich stolz auf mein Bronzeabzeichen. Aber ich wollte mehr. Mein Trainer gab mir die Chance, beim Schwimmunterricht zu helfen. In 2 Jahren habe ich viel als Trainer-Assistent gelernt und dann habe ich die Prüfung zum Rettungsschwimmer Silber gemacht. #nevergiveup - das ist mein Lebensmotto.
Bei meiner Ausbildung zum Rettungsschwimmer hat mich dieser Spruch getragen, ich war kein guter Krauler. Ich habe mich unwohl gefühlt und mir gesagt, jetzt nimmst du teil, dann musst du kraulen können. Mit Karim habe ich jeden Samstag trainiert, fast 2 Stunden, und dann habe ich Spaß am Kraulen bekommen. Heute kraule ich viel lieber als Brust zu schwimmen ... diese Froschbeine ...
Für mich war es wichtig, eine neue Schwimmart zu lernen und gut darin zu sein und vor allem die Prüfung gut zu machen. #nevergiveup, der Spruch ist für mich heilig, es ist auch Arnold Schwarzeneggers Spruch. Und Ronaldos, ich bin auch Fußballfan, Ronaldo ist der Beste für mich.
Jetzt bin ich Rettungsschwimmer und Trainer. Die Erinnerung, dass alte und junge Menschen ertrinken, weil sie nicht schwimmen können, war schrecklich. Diese Bilder kann man nicht vergessen. Ich frage mich heute, wieso sollte man nicht schwimmen können? Wieso können manche Kinder, manche Jugendliche nicht schwimmen? Es ist egal, ob man flüchtet oder nicht, wir müssen allen die Möglichkeit geben, schwimmen zu lernen.
Es gibt nichts Schöneres, als Menschen etwas beizubringen, woran sie vorher nicht geglaubt haben
Ich bin glücklich, dass ich die Möglichkeit hatte und jetzt kann ich anderen das Schwimmen beibringen, Ihnen zeigen, wie sie mit dem Wasser umgehen können, wie sie mit ihrem Körper umgehen, wie sie Sicherheit im Wasser bekommen. Schwimmen zu unterrichten bedeutet für mich, mein Wissen an andere weiterzugeben. Ihnen die Angst vor dem Wasser zu nehmen und ihnen zu helfen, dass sie sich sicher fühlen. Und das geht in kleinen Schritten, manchmal geht es auch einen Schritt rückwärts. Für mich gibt es nichts Schöneres, als Menschen etwas beizubringen, woran sie vorher selbst nicht geglaubt haben. Vertrauen zu dem Schwimmschüler aufzubauen, ihn zu motivieren, dass er sich traut, ins Tiefe zu gehen, sich traut, eine ganze Bahn zu schwimmen, vielleicht auch erst mit Festhalten am Rand.
Zu einem Menschen, den man vor kurzem gar nicht kannte, entsteht eine emotionale Beziehung, die den Trainer immer an der Arbeit hält. Es entsteht ein Vertrauen, das den Schüler etwas wagen lässt, was er sich vorher nicht vorstellen konnte.
Das schönste Gefühl für mich ist, wenn der Schwimmschüler kommt und ganz locker sagt: »Ich schwimme jetzt erst mal eine Bahn.« Oder er taucht und hat keine Angst mehr vor der Tiefe des Wassers. Wenn er dann 200 m schwimmt und den Ring hochholt, wenn er weiß, welche Baderegeln zu beachten sind, dann bin ich so stolz.
Wenn jemand das alles schafft, was er sich selbst nie zugetraut hat, ist es die größte Anerkennung für den Schwimmlehrer. Ein Bronzeabzeichen von Kindern und Jugendlichen, die ich unterrichtet habe, ist für mich die »Kirsche auf der Torte«.
Im Rückblick auf unsere 5 Jahre in Deutschland, denke ich: »Krass, Alter«. Und dann kommt es mir immer wieder in den Kopf: #nevergiveup. Ich gebe mein Motto sehr gerne weiter, bitte nicht aufgeben, man schafft nicht alles in einem Monat, einfach dranbleiben und sein Training durchziehen.
Nach dem Abitur habe ich mit Freunden einen Ausflug nach Neapel gemacht. Seit meiner Flucht war ich das erste Mal wieder am Meer. Ich hatte seitdem nie mehr einen Strand gesehen. Und jetzt, es war ein unglaubliches Gefühl, in das Wasser hineinzuspazieren, sich hineinzuwerfen und im Meer zu schwimmen. Ich bin Rettungsschwimmer.
Ich habe keine Angst mehr.«