»Schreiben ist für mich Meditation«
Pierre Stutz erzählt uns über die Entstehung seines Meditationsbuches, dessen Texte uns zum eigenen Leben, Handeln und Staunen ermutigen
Inspiration Gesund leben Lebensweisheit Hoffnung»Die Pandemie hat auch mich auf mich selbst zurückgeworfen, all meine Vorträge und Kurse sind abgesagt worden, über 18 Monate konnte ich nicht in die Schweiz fahren. Viel Vertrautes wie spontan Latte Macchiato trinken, ins Kino oder in die Sauna gehen, in einer Gruppe meditieren war auf einmal nicht mehr möglich. Monatelang war ich tagsüber alleine in unserer Wohnung. Ich vertiefte die Lebenskunst der Lange-Weile als Chance, Selbstverständliches noch bewusster dankbar zu schätzen, Schönes noch mehr auszukosten und auch Schmerzvolles anzuschauen, um darin Unterbelichtetes in meinem persönlichen Dasein und sozialpolitischen Handeln zu entdecken. Ich erinnerte mich an die Kraft der Rituale, die mir schon vorher im Leben eine vertrauensvolle Struktur geschenkt hat.
Durch das Schreiben den Horizont weiten
Intuitiv erwachte ich mehrmals am Morgen mit dem ersten Impuls, mich wieder von den 150 biblischen Gebeten, den Psalmen, inspirieren zu lassen, um dem Auf und Ab meines jetzigen Lebens mit Respekt und Vertrauen zu begegnen. Jene Gebete, die mich schon als 20-Jähriger faszinierten, weil darin alle Gefühle ausgedrückt werden, und mich zugleich abschreckten wegen ihrer »Schwarz-Weiß/Gut-Böse-Perspektive«, die für ein populistisch-ausgrenzendes miteinander missbraucht werden kann und krankmachende Gottesbilder fördert. Einige Wochen lang waren die Widerstände gegen diese Psalm-Aktualisierungen stärker als meine Sehnsucht, durch das Weiterschreiben von uralten Lebenserfahrungen meinen Horizont weiten zu können. Und wie schon so oft in meinem Leben: Im Loslassen dieses Impulses eröffnete sich mir die Freiheit, es einfach mal zu versuchen. Zumal ich genau wusste, wie ich mein tägliches Ritual gestalten wollte:
- ich lese mir morgens laut einen Psalm vor
- ich nehme die gehörten Worte mit auf meinen meditativen Morgenspaziergang, in dem das nachklingen kann, was mir beim Vorlesen guttut oder was mich ärgert oder mich verunsichert oder mich hoffnungsvoll stimmt oder
- bei meiner Rückkehr in die Wohnung lasse ich es schreiben, und damit ich mein intuitives Schreiben nicht eingrenze oder zu schnell korrigiere, lese ich die geschriebene Meditation nicht noch einmal durch
Schreiben als Lebenshilfe
Los ging’s: So fing ich an mit Psalm 1, am nächsten Tag mit Psalm 2 und so weiter, ohne jemals einen vorher geschriebenen Text nachzulesen. Zu meinem großen Erstaunen haben sich nach 150 Tagen all meine Tagebuch-Meditationen geschrieben. Ich war so berührt von dieser inneren Erfahrung, dass ich es vorerst nicht wagte, diese Standortbestimmungen zu lesen. Einmal mehr habe ich dankbar erfahren, dass ich zum Schreiben geboren bin. Schreiben ist mir Lebenshilfe, Lebensbewältigung, Lebenslust und Lebensperspektive … Schreiben ist für mich Meditation, weil es mir ein »Hinhalten des Erfahrenen in einen größeren Raum« ermöglicht, wie es Stefan Seidel in seinem inspirierenden Buch »Nach der Leere. Versuch über die Religiosität der Zukunft« (2020) umschreibt.
Meditationen als Quelle für Kraft und Ermutigung
Erst nach einem Monat habe ich mein aktuelles Lebensbuch geöffnet, um meiner Seelenlandschaft begegnen zu können, in der all das Platz hat, was mich stärkt und verunsichert. Nach dem Lesen der ersten Meditationen war mir sofort klar, dass ich diese Worte nicht verändern darf, weil sie mir nicht gehören! Sie sind mir als Geschenk zugeflossen.
Sie sind ausgerichtet auf ein liebend-göttliches DU, das mich zu mir selbst führt und über mich hinausweist, zur Kraft in Beziehungen, zur Ermutigung zum Engagement, zur Liebe.«
Ihr Pierre Stutz
Pierre Stutz »Meditation 36«
Verlassen möchte ich mich
auf unzählige Friedensengagierte
die trotz vieler Rückschläge
Frieden in Gerechtigkeit verwirklichen
Verlassen fühle ich mich manchmal
wenn himmelschreiende Nachrichten
mich ohnmächtig werden lassen
meine Perspektiven verdunkeln
In dieser leidenschaftlichen Spannung
von Verlässlichkeit und Verlassenheit
will ich noch intensiver Ausschau halten
nach Deiner unaufhaltsamen Friedensspur
Jeden Morgen breche ich neu auf
einer zärtlich-gerechteren Welt entgegen
verbinde mich im tiefen Ein- und Ausatmen
noch bewusster mit vielen Verbündeten
(aus dem Buch »Suchend bleibe ich ein Leben lang«)