Traumatisierten Kindern helfen
Andreas Krüger plädiert für die schnelle Hilfe traumatisierter Kinder aus Kriegsgebieten und auf der Flucht. Nun ist sein Buch auf Ukrainisch erschienen – dank vieler helfender Hände
Aktuelles Verantwortung Gesellschaft TrostFür alle Kinder und Jugendlichen,
deren Vertrauen in sich, die Erwachsenen und die Welt,
deren Träume und Leichtigkeit,
deren Zukunft
durch Hass, Gewalt und Krieg beschädigt wurden.
Das allgemeine Bewusstsein für psychische Traumatisierungen von Kindern und Jugendlichen hat in den letzten 20 Jahren deutlich zugenommen. Gleichzeitig nimmt das Ausmaß an psychischer und körperlicher Gewalt gegen Kinder – z.B. auch im Kontext organisierter sexueller Gewalt – auf erschütternde Art und Weise ständig zu. Die digitalen Medien tragen hier zwar auch zur Aufklärung bei, sind aber selbst häufig an der Gewalt beteiligt.
Wenn bei Kindern das »Notfallprogramm im Kopf« greift
Die betroffenen Kinder und Jugendlichen leiden unsichtbar, einige fallen aus dem sozialen Rahmen heraus, viele bleiben stumm, leiden an einer Posttraumatischen Belastungsstörung, einer Art »Notfallprogramm im Kopf«. Die traumatische Ursache ihrer Auffälligkeiten bleibt allerdings häufig unerkannt, denn eine seelische Verletzung sieht man nicht immer auf den ersten Blick. Der Bedarf an allgemeinverständlicher Literatur zu Trauma-Folgestörungen ist groß und nimmt stetig zu. Alle gesellschaftlichen Gruppen, insbesondere (Pflege- und Adoptiv-)Eltern, Lehrer:innen sowie Mitarbeiter:innen sozialer und pädagogischer Berufe benötigen daher ein solides Grundlagenwissen zum Thema Trauma.
Diese Fachkunde bietet mein Buch »Erste Hilfe für traumatisierte Kinder«, das nun auch auf Ukrainisch vorliegt. Es will Erwachsenen vermitteln, wie sie belasteten Kindern und Jugendlichen mitfühlend zur Seite stehen, und ihnen praktische Anleitungen an die Hand geben, wie sie die jungen Menschen dabei unterstützen können, besser mit dem »Notfallprogramm im Kopf« klar zu kommen. Auch hilft das Buch Erwachsenen, Kinder und Jugendliche, die eine Traumatherapie erhalten, besser zu begleiten.
Warum es eine ukrainische Ausgabe gibt
Dieses Buch ist – nach seiner deutschsprachigen Erstausgabe 2007 – 2023 in der 11. Auflage erschienen. Nun liegt es Dank viel Unterstützung seitens engagierter Menschen auch in einer ukrainischen Übersetzung vor. Der Anlass ist traurig und bedrückend: Im Februar 2022 begann Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Und wieder sind es die Schwächsten der Gesellschaft, die die Grausamkeit der Erwachsenen am härtesten trifft: die Kinder und Jugendlichen. Es macht mich unendlich traurig, wenn ich daran denke, dass Kinder Opfer von brutalster Gewalt werden und viele hundert von ihnen bereits getötet wurden. Viele haben überlebt, mussten aber schreckliche Gräueltaten, z.T. gegen ihre eigenen Familienmitglieder, die Mutter, den Vater oder die Geschwister, mit ansehen. Die Seelen dieser Kinder und Jugendlichen haben unzählige Verletzungen erlitten, die sich – häufig unsichtbar – gravierend auswirken. Hier ist es wichtig, dass die Gesellschaften, die diesen Kindern, Jugendlichen und ihren Familien Schutz geben, auch geeignete, traumasensible seelische Unterstützung bieten. Denn unbehandelt führen Traumatisierungen zu langfristigen psychischen Schäden, sozialen Defiziten und können auch zu körperlichen Erkrankungen beitragen.
Warum jede Hilfe für traumatisierte Kinder wichtig ist
Die Angebote der psychotherapeutischen Versorgungslandschaft reichen meist nicht aus, um allen jungen Menschen die unter Umständen jahrelange traumatherapeutische Behandlung zukommen zu lassen, die sie eigentlich benötigen. Vielen Kindern und Jugendlichen kann es jedoch auch schon helfen, wenn sie gemeinsam mit den Erwachsenen besser verstehen, was mit ihnen los ist, wenn sie erfahren, dass ihre Probleme, die nach den Schreckenserfahrungen aufgetreten sind, völlig normal sind. Hier vermittelt der vorliegende Ratgeber Nicht-Fachleuten das nötige Basiswissen, das helfen kann.
Es gibt immer mehr Kinder, die aufgrund ihrer Erfahrungen auffällig werden
Inzwischen gibt es auch die ukrainische Übersetzung eines weiteren hilfreichen Buches von mir: Das »Powerbook – Erste Hilfe für die Seele. Band 1: Trauma-Selbsthilfe für junge Menschen« richtet sich direkt an Kinder und Jugendliche, die von Traumatisierung betroffen sind.
Die Erfahrungen im ersten Kriegsjahr zeigen, dass betroffene Eltern aus den Kriegsgebieten kaum aus eigenem Antrieb psychosoziale Unterstützung für ihre Kinder in Anspruch nehmen. Es sind zunächst drängende existenzielle Fragen, die die Erwachsenen beschäftigen, und das Leid der Kinder ist auch häufig nicht ohne Fachkunde zu erkennen. Niemand kann den Kindern und Jugendlichen »hinter die Stirn« schauen, wo das »Notfallprogramm« – z.B. in Form von sogenannten Flashbacks oder Dissoziationen – sie immer wieder in den »alten Film« der schrecklichen Erfahrungen hineinreißt. Unklare körperliche Beschwerden, Angstattacken, Schlafstörungen bis hin zu Suizidalität können die Folgen sein. Die Kindergärten und Schulen berichten von immer mehr Kindern und Jugendlichen, die unter der Last der Erfahrungen von Krieg und Flucht auffällig werden: Einige von ihnen sind still, zurückgezogen und verschlossen, andere überschreiten Grenzen – die eigenen und die der anderen. Der zeitliche Zusammenhang zwischen den schweren Schicksalen dieser Kinder und ihren Auffälligkeiten ist meist naheliegend. Traumapsychologisches Grundlagenwissen, wie es in diesem Buch vermittelt wird, ermöglicht, die auffälligen Kinder besser zu verstehen und sie bei der Bewältigung ihrer Erfahrungen zu unterstützen.
Wir alle können einen Beitrag leisten
Dieses Buch richtet sich zum einen an die Eltern betroffener Kinder und Jugendlicher. Aber es richtet sich auch an andere Erwachsene: ukrainisch sprechende Mitarbeiter:innen in Institutionen, die Kontakt mit betroffenen Kindern und Jugendlichen haben, und an psychologische Laien, die schwierige Entwicklungen bei den jungen Menschen beobachten und die helfen wollen.
Ich wünsche mir, dass möglichst viele Erwachsene, die mit Kindern und Jugendlichen aus den Kriegsgebieten zu tun haben bzw. die ihre Eltern sind, dieses Buch lesen. Wir können die schrecklichen Erfahrungen, die die Kinder und Jugendlichen im Krieg machen mussten, nicht ungeschehen machen. Aber wir können alle gemeinsam die jungen Menschen dabei unterstützen, dass der Krieg und seine Folgen, die unsichtbaren seelischen Verletzungen, ihr Leben heute und morgen nicht weiter zerstören.
Ihr Andreas Krüger
Hamburg, im September 2022