Warum ADHS keine »Modeerkrankung« ist

Mit welchen Vorurteilen und Problemen Ursula Frühe, die Mutter zweier Kinder mit ADHS täglich zu kämpfen hat, erfahren Sie hier. Ein Interview.

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Lebe gut: Warum braucht es noch ein Buch über ADHS? Oder anders gefragt: Was hat Sie dazu gebracht, dieses Buch zu schreiben?

Ursula Frühe: Obwohl das Kürzel ADHS einen totalen Medien-Hype erfährt, ist außerhalb des Kreises der Betroffenen noch immer weitgehend unbekannt, welche existenzielle Auswirkung diese »neuronale Unordnung« hat – auf die gesamte Biografie der mit dieser Disposition geborenen Person, auf ihre Herkunftsfamilie, auf spätere Partnerschaften sowie auf das schulische und berufliche Umfeld. Denn ADHS bedeutet so viel mehr als »nur« eine Lernstörung. Es benachteiligt die Betroffenen bereits in ihrer Schulzeit, müssen sie sich doch viel mehr anstrengen, um die gleichen Resultate zu erzielen. Aber auch im Berufsleben bleiben Menschen mit der Diagnose ADHS oft unter ihren Möglichkeiten – unabhängig vom individuellen Schicksal auch rein ökonomisch eine Verschwendung von Ressourcen. Mehr als eine Marginalie auch der Aspekt, dass ein erheblicher Beitrag zur Kriminalitätsrate ursächlich auf ADHS zurückzuführen sein dürfte, weil Betroffene nicht gelernt haben, mit ihrem Impulsverhalten sowie mit Suchttendenzen umzugehen. Und schließlich erlauben Sie mir noch den persönlichen Blick einer Mutter zweier von ADHS betroffener Söhne – die nicht nur die entsprechende immense familiäre Belastung kennt – sondern der es ein hohes Anliegen ist, mit einigen der hartnäckigsten Klischees aufzuräumen: Nein, ADHS ist kein Erziehungsversagen und die medikamentöse Behandlung nicht der Einstieg in eine spätere Drogenkarriere! Dieser erlaubt vielmehr endlich einen Zugriff auf die vollen geistigen und persönlichen Potenziale der Betroffenen.

Leidensdruck in sämtlichen Lebenssituationen

Lebe gut: Symptome wie Unkonzentriertheit, Prokrastination, geringe Frustrationstoleranz oder Bewegungsdrang sind den meisten von uns wohlbekannt. Ab wann reden wir von ADHS?

Ursula Frühe: Von ADHS ist zu reden, wenn in mindestens zwei oder mehr Lebensbereichen Beeinträchtigungen vorhanden sind – wie z.B. massive Konzentrationsprobleme in der Schule und soziale Isolation, etwa wenn ein Kind keine Freunde findet und nie zum Kindergeburtstag eingeladen wird. Ausschlaggebend ist als wichtigster und zugleich höchst subjektiver Parameter der Leidensdruck, den ein kleiner oder großer Mensch empfindet. Die innere Unruhe, das Gefühl von geistiger Getriebenheit, das permanente Chaos im Kopf, was sowohl Zeitempfinden als auch räumliches Orientierungsvermögen betrifft.

Lebe gut: »Modephänomen« oder »kommt vom Internet« … - es gibt kaum eine Krankheit, bei der sich so viele zum Experten aufschwingen, wie bei ADHS. Vielleicht, weil die Grenzen tatsächlich sehr fließend sind?

Ursula Frühe: Wie es treffend im Vorwort meines neuen Buches heißt: »ADHS-typische Eigenschaften gab´s schon in der Steinzeit, nur waren diese damals von hoher Relevanz für den Fortbestand der Sippe. Man brauchte den ultraschnellen Läufer, den nimmermüden Späher im Baum mit dem 360-Grad-Blick, der jede Bewegung, jedes Rascheln wie ein Seismograf wahrnimmt, um schnell Alarm zu schlagen«. Das ist ja der häufig geäußerte Vorwurf: es sei nur unsere moderne hektische Umwelt mit ihrer permanenten Reizüberflutung, die unsere Kinder krank mache … Wir leben aber nun mal nicht wie die Amish People und die meisten von uns möchten auch nicht das Rad der Geschichte zurückdrehen. Unsere Kinder müssen also lernen, dass rasche Bedürfniserfüllung nicht glücklich macht. Aber ja, die Abgrenzung zu einer »echten« Diagnose ist tatsächlich schwer, weil das Spektrum schillernd ist. Aber, eben, es gibt klar festgelegte diagnostische Kriterien, die für jeden in der international classification of diseases (ICD-11) einsehbar sind. Hier wird ADHS seit 2022 unter den neurodevelopmental disorders eingestuft. Das trifft´s.

ADHS – eine behandelbare Stoffwechselstörung

Lebe gut: Wie haben Sie die ADHS-Diagnosen in ihrer eigenen Familie bewältigt? Was hatte Ihnen Hoffnung gemacht?

Ursula Frühe: Es gab Zeiten, in denen ich durchaus in die Knie gegangen bin, vor allem während der Pandemie. Damals eskalierte die Situation zuhause in Form handfester Komorbiditäten, die rasches medizinisches Handeln erforderten. Bewältigt haben wir diese kritische Phase einerseits durch kompetente therapeutische Unterstützung sowie durch unsere familiäre Beziehung, deren Band niemals abriss. Da-sein, reden, zuhören, im Kontakt bleiben, auch wenn´s weh tut. Hoffnung schöpfte ich immer wieder aus dem Versuch eines Perspektivwechsels: ADHS weniger als Krankheit betrachten, sondern als eine behandelbare Störung. Und der glücklichen Erfahrung, dass meine Kinder kleine Kämpfernaturen sind und ein enormes Entwicklungspotenzial haben.

Lebe gut: Der bekannte Psychiater, Prof. Andreas Reif, schreibt im Vorwort zu Ihrem Buch: »ADHS’ler sind sehr oft bereichernde, charmante und lustige Menschen. Unser Leben wäre ohne sie ärmer«. Können Sie das aus eigener Erfahrung bestätigen?

Ursula Frühe: Oh ja! Das Anstrengende und Exzessive ist manchmal zugleich das Wunderbare: Meine Kinder haben eine schier unerschöpfliche motorische Energie, sind zäh und ausdauernd in ihren Spezialinteressen. Sie kommen durch ihr assoziatives, nicht-lineares Denken auf irre kreative Ideen und Verknüpfungen, sind künstlerisch begabt, phantasievoll und immer auf Sendung. Das Leben mit ihnen ist stets überraschend, bunt, trubelig und wir als Eltern bleiben forever young! Mein Lieblings-Vergleich ist der des amerikanischen Psychiaters Hallowell, selbst ADHSler: Sie haben die Power eines Ferrari-Motors, aber (leider) die Bremsen eines Fahrrades. Oder, wie der unsterbliche Freddy Mercury sang: »they call me Mr. Fahrenheit…«

Dieses Interview ist in unserem Kundenmagazin Herbst 2024 erschienen.

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