Weiga, die etwas andere Weihnachtsgans. Eine Erzählung
Glück im Unglück hatte Weiga, die etwas andere Weihnachtsgans. Davon und von der Wärme des Winters handelt diese Kurzgeschichte von Detlef Kuhn.
Inspiration Weihnachten Advent GlückAls die Wildgänse am Morgen von ihrem Schlafplatz aufbrachen, fühlte Weiga, dass ihre Kräfte nicht mehr reichten. Wehmütig schaute sie dem Zug nach und lauschte lange noch in ihrem Herzen dem freien Ruf der Zugvögel. Von der Brutstätte in Sibirien über Osteuropa führte der rund 6000 Kilometer weite Flug zu den saftigen Wiesen und Weiden am Rhein. Dort reichte es zu einem guten Fettpolster für den Rückflug im Frühjahr. Jahr für Jahr war Weiga auf der langen Route hin und zurück dabei gewesen.
Jetzt aber musste sie zurückbleiben und suchte Schutz unter einem Strauch am Wegrand. Der Frost hatte das Land erstarren lassen. Auf dem festgefrorenen Boden hatte sie sich bei einem unbedachten Schritt den rechten Fuß gebrochen. Es waren einsame Tage. Die Nächte waren lang und kalt. Weiga wusste, dass ihre Zeit dem Ende entgegenging. Ohne Nahrung hatte sie sich zu ihrem Versteck geschleppt. Gegen die eisige Luft schob sie ihren empfindlichen Schnabel unter den Flügel und erhoffte Ruhe und etwas Schlaf.
Da kam ein altes Ehepaar des Weges. In warmer Winterkleidung genossen sie den Sonnenuntergang am Adventabend. Als Erste bemerkte die Frau den Vogel. Behutsam näherten sich beide und erkannten gleich das Leid und die Not des Tieres. Sanft hob es der Mann in seinen Arm und wickelte es in seinen Schal. Weiga ließ alles geschehen und blinzelte nur ein einziges Mal auf. So erreichten sie das warme Haus der beiden. Drinnen bereiteten sie Weiga ein behagliches Nest und brachten zu trinken und zu essen. Weiga nahm die Gastlichkeit dankbar an. Als pensionierter Chirurg hatte der Mann die gebrochene Stelle sofort bemerkt und diagnostiziert. Am nächsten Morgen begann die Operation. Voller Freude blickte das Paar einander in die Augen, als sie den gefiederten Patienten nach geglückter Behandlung wieder zurücklegten. Schnell kam Weiga wieder zu Kräften und schloss sich mit aller Dankbarkeit und tiefer Wildgansliebe ihren Lebensrettern an. Sie gehörte dazu und fühlte sich bei den Menschen sehr wohl. Am Weihnachtsabend lag sie träumend da, während sich das Paar bei Kerzenschein ein gesegnetes Fest und alles Gute zusagte. Nach einem leichten Mahl und einem Glas Chateau Moulin Haut Laroque begaben sie sich zur Ruhe.
Mit einem zärtlichen Streicheln wünschten sie auch Weiga zum Fest das Allerbeste. Hand in Hand verließen sie das Zimmer und vergaßen in ihrer Müdigkeit die brennende Kerze. Diese brannte während ihres Tiefschlafes bis zu den Tannenzweigen herunter. Schnell breitete sich das Feuer aus und drohte alles zu verschlingen. Da erwachte Weiga und schnatterte, wild mit den Hügeln schlagend, was ihre Stimme hergab. Auf unsicheren Füßen schleppte sie sich zum Zimmer der beiden und gab nach ihrer Wildgänseart unüberhörbaren Feueralarm.
Zuerst erwachte der Mann und eilte, gefolgt von seiner Frau, zu der Brandstätte. Mit bedachten Handgriffen konnte großer Schaden verhindert werden. Erschöpft saßen beide schließlich da und blickten dankbar auf ihre Lebensretterin, die sich vertraut an sie schmiegte. An diesem Abend gab die Frau ihr den Namen Weiga. Auf die Frage ihres Gatten nach der Bedeutung verlängerte sie vergnügt schmunzelnd die beiden Silben zu dem Ehrentitel »Weihnachtsgans«. Dann erkundigten sie sich nach der Lebenserwartung ihrer neuen Mitbewohnerin und fanden eine Zahl um 20 Jahre. So lebten sie noch lange in einer liebevollen Hausgemeinschaft mit dieser Weihnachtsgans namens Weiga.
Detlef Kuhn