Die Frage »Wer bist du?« soll uns in unser Inneres führen, das Ich ausleuchten. Der Dichter, Gelehrte und Mystiker Rumi (1207–1273) fragt, wer denn das Ich ist, das sich diese Frage stellt: »Wer bist du?« Und wer ist das Ich, das darauf antwortet? Wer sich selbst zum Geheimnis geworden ist, findet zum großen Geheimnis. Doch wozu überhaupt ein Geheimnis? Rumi ist überzeugt: »Der richtige Kopf ist der, in dem ein Geheimnis wohnt; sonst sind tausend Köpfe nicht einmal einen Heller wert.« Seinen letzten Sinn nicht zu finden, über Gott und die Wahrheit nicht zu verfügen kann den Menschen ungeduldig, zerstreut und ratlos werden lassen. In sich das Geheimnis zu tragen jedoch eröffnet eine andere Haltung im Leben: das Loslassen.
Grenzerfahrungen
Im Geheimnis ist eine tiefe Erfahrung verankert: mit der Unwissenheit leben zu lernen. Auszuhalten. Auszuhalten, was sich nicht halten lasst, stiftet Haltung. Ist nicht in allem ein Rest an Ungewissheit anwesend? Eine offene Stelle, eine leise Uneindeutigkeit? Und doch ist in allem auch die Möglichkeit eingeschrieben, dass es größer, tiefer, verwobener ist, als es scheint. Eben das Unsagbare am Sagen, das Unsichtbare am Sehen, das Unhörbare am Hören. Ist dies das stille Geheimnis aller Dinge, dass in allem still das Göttliche weilt? Rumi entdeckt im Koran den Vers: »Wo ihr euch hinwendet, ist das Antlitz Gottes« (Koran Sure 2 Vers 115). Inspiriert vom Koran, in dem sich der Ewige in einem Atemzug als »der Offenbare und der Verborgene« beschreibt, findet Rumi keine Verschlossenheit vor, sondern stets Türen und Tore, die zugleich Grenzen bedeuten. Das Geheimnis ist für Rumi also ein Grenzbegriff, eine Erfahrung, die zwei Seiten hat, sodass wir erst dann die Grenze überwinden können, wenn wir zuvor in Berührung mit ihr kommen.
»Wer bist du?«
Die Frage: »Wer bist du?« ist eine solche Grenzfrage. Sie sucht Entgrenzung, Einheit, aber erst muss sie an die Grenze geführt werden. Dem Geheimnis auf der Spur muss der Mensch der Unerklärlichkeit folgen, die bei ihm, in ihm selbst beginnt. Wer sich selbst befragt, begegnet sich als ein Du seines eigenen Selbst. Das eigene Ich wird zum eigenen Du.
Damit macht Rumi deutlich, dass die Frage danach, wer wir sind, uns bereits verwandelt. Wer bist du? Das scheint die Frage zu sein, die einen Riss, eine Bruchstelle in uns erzeugen soll. Wer fragt, ist uns unbekannt. Aber die Frage nimmt uns in Anspruch, aus der Frage wird eine Selbstanfrage. Die erste Einsicht besteht darin, zu erkennen, dass die Frage keine bloße Scheinfrage ist. »Wer bist du?« Vor dieser Frage werden die festen Mauern, die wir errichtet haben, um uns nicht infrage zu stellen, zu einer brüchigen Fassade. Nicht ein anderer, so Rumi, sondern du selbst solltest diesen Riss in deiner Fassade herbeiführen. Der Riss, der dann entsteht, führt auf den Weg nach innen.
Eine Reise in die Freiheit
Die Frage »Wer bist du?« vollzieht sich wie ein Klopfen an eine Tür. Damit ist die Sehnsucht verbunden, dass die Tür sich öffnet. Es ist eine Reise in die Tiefen unserer eigenen Existenz. Nicht irgendetwas wird befragt, sondern ich bin überhaupt der Frage ausgesetzt. Die Frage »Wer bist du?« verlangt nicht nach einer nur oberflächlichen Antwort. Sie zielt darauf ab, uns selbst zu enthüllen, jenseits von Namen, Rollen und Identifikationen.
Wer fragt und wer antwortet, sind nicht voneinander getrennt. Aber ist das überhaupt verstehbar? »Wer bist du?« ist keine bequeme Frage. Sie zwingt uns, die scheinbare Selbstverständlichkeit zu verlassen und unsere Mauern der Selbstsicherheit zu durchbrechen. Der Riss, der entsteht, ist eine Öffnung, die uns zu uns selbst öffnet. Es ist ein Akt der Befreiung von den Begrenzungen, die wir uns selbst auferlegt haben. Und sie ist ein Akt der Hingabe, weil wir uns dem Prozess der Selbstanfrage hingeben. Indem wir den Riss in unserer Fassade zulassen, öffnen wir uns für eine tiefere Verbindung mit unserem wahren Selbst. Die Antwort mag endlos sein, aber in dieser Endlosigkeit liegt die Freiheit, die uns dafür öffnet, immer wieder neu zu werden und uns selbst im unabschließbaren Prozess des Suchens zu erfahren.
»Gott schaut auf eure Herzen«
Der Übergang vom Ich zum Du vollzieht sich in einem Prozess der Zurücknahme des eigenen Ich. Als würde man den Geburtsvorgang umkehren, um zu werden, was nicht geworden war. Das Ich soll nicht entschwinden, sondern sich verwandeln. Rumi fragt: »Was gibt es, das Gott der Erhabene nicht besitzt und dessen Er bedurfte? Vor Gott muss man ein Herz bringen, leuchtend und spiegelklar, damit Er Sein eigenes schönes Gesicht darin sehen kann. Der Prophet hat gesagt: ›Gott blickt nicht auf eure Gestalten und nicht auf eure Werke, sondern Er schaut auf eure Herzen und Intentionen.‹«
Geboren werden, leben, sterben in dem Angesprochensein durch Gott: Das ist in der ursprünglichen Erfahrung versammelt, ein Du zu sein, ein Du Gottes, aber auch ein Du des anderen Menschen. Ein Du zu sein heißt durchlässig zu sein − für den anderen, für das andere Du, um von jedem Du angezogen, für jedes Du antreffbar, mit jedem Du mitfühlend, bei jedem Du anwesend zu sein.
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