Wie wir durch Verzichten gewinnen können

Christian Firus über Chancen in der Krise und warum Verzichten auch Positives mit sich bringt

Lebenshilfe Ratgeber Gesellschaft Gesund leben

»Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen,
durch die sie entstanden sind.«
Albert Einstein

Plötzlich war sie da – die Krise

Spätestens seit März 2020 gibt es »alles wie immer« nicht mehr. Schneller als alle es je für möglich gehalten hätten, kam fast das gesamte öffentliche Leben zum Stillstand. Und was vielleicht noch verwunderlicher erscheint: das Gleiche galt auch für die Wirtschaft, der sonst immer Vorrang eingeräumt wurde. Ein Corona-Virus aus dem fernen China hat all dies ausgelöst: Ausgangsbeschränkungen in fast  allen Ländern der Welt, Abbruch von Lieferketten, die unentbehrlich und für die Ewigkeit gemacht schienen, das Erliegen fast des gesamten Luftverkehrs, Abertausende wirtschaftlich gefährdete Existenzen und selbstverständlich auch gravierende gesundheitliche Folgen.

Genauso gravierend sind die psychosozialen Folgen. Einerseits können die  Quarantäne-Maßnahmen wie Trigger wirken, weil Isolation, Einsamkeit, Kontaktabbrüche und beschränkte Hilfeangebote oftmals an traumatische Erfahrungen in der persönlichen Biographie erinnern können.  Anderseits blieb vielen der Zugang zu hilfreichen Anlaufstellen deswegen versperrt, weil diese nur noch telefonisch oder gar nicht mehr erreichbar waren. Und nicht zuletzt wächst durch Ausgangsbeschränkungen die Gefahr von häuslicher Gewalt in all ihren furchtbaren Fassetten, weil Menschen sich nicht mehr aus dem Weg gehen können und ungewohnt viel Zeit miteinander verbringen, was durchaus Nährboden für Konflikte darstellt. Schließlich litten und starben durch die beschlossenen Kontaktbeschränkungen unzählige Menschen alleine. Das ist inhuman, weil Nähe und Zugehörigkeit wesentliche menschliche Grundbedürfnisse sind, die wir nicht ohne Folge längere Zeit entbehren können.

Wenn ein »weiter so« nicht mehr möglich ist

Wir bekamen zu spüren, wie verletzlich unser Leben eigentlich ist. Vermeintlich unumstößliche Gegebenheiten verloren von einem Tag auf den anderen ihre Gültigkeit. Dazu gehört die weltweite Reisefreiheit genauso wie das tröstliche gemeinsame Zusammenkommen, zum Beispiel im Freundeskreis oder unter dem Dach einer Kirche. Das Selbstverständliche wurde zum besonderen Ereignis.

Aber auch die gesundheitliche Verletzbarkeit zeigt sich durch Corona deutlicher denn je. Es wird nicht mehr im fernen Syrien oder an anderen entfernten Orten der Welt gestorben, sondern nebenan im Elsass oder in unserem geliebten Urlaubsland Italien, um nur zwei Beispiele zu nennen. Das ist traurig und für alle Betroffene leidvoll. Es birgt allerdings die Chance, unserer Endlichkeit ins Gesicht zu schauen und uns ernsthaft die Frage zu stellen, ob wir angesichts der Kostbarkeit und Unverfügbarkeit unseres Lebens so weiterleben wollen wie bisher.

Chancen in der Krise erkennen

Darin liegt eine riesige Chance, denn nicht umsonst haben zahlreiche philosophische und religiöse Traditionen bereits seit Jahrtausenden auf dieses »memento mori« (bedenke, dass du sterben musst) hingewiesen. Der Tod kann und soll hier zum Lehrmeister des Lebens werden. Wenn mein Leben endlich ist, wenn es auch mich schon morgen treffen kann, was will ich dann nicht verschieben, was ist mir dann wirklich wichtig, was würde ich dann heute schon anders machen? Das öffentliche Sterben in Coronazeiten stößt die Tür zu diesen Fragen weit auf, so weit, dass man schlechter als sonst darüber hinweggehen kann. Und das ist gut so.

So wurden bereits nach kürzester Zeit auch die Chancen dieser Krise sichtbar. Und das sind zahlreiche: Sehr schnell sprachen sich viele Menschen in verantwortlichen Positionen dafür aus, Dienstreisen in Zukunft auf das Nötigste zu begrenzen und viel mehr auf Video- und Telefonkonferenzen zu setzen. Gleiches gilt für das Homeoffice. All das spart nicht nur Zeit, es entlastet auch die Umwelt. Die Arbeitstage können kürzer werden, weil ich schon da bin, wohin ich sonst erst wieder, oft mühsam und langwierig, zurückkehren müsste. Warum nicht beim Radfahren bleiben oder häufiger einen ausführlichen Spaziergang machen, wenn mir das in Zeiten der Ausgangsbeschränkung gutgetan hat? Und noch viel wichtiger: Die Erfahrung von Zusammengehörigkeit, und zwar mit allen menschlichen Wesen. Noch nie war dieses Gefühl greifbarer, spürbarer und weniger abstrakt als in dieser Krise.

Gemeinsam die Welt zu einer besseren machen

Mancher Verzicht, der vor der Krise noch undenkbar erschien, gelang und hatte vielleicht sogar Positives im Gepäck. Und erstaunt stellen wir im Rückblick fest, mit wie wenig wir glücklich und zufrieden sein konnten und es weiterhin sein können. Der Wert eines Spaziergangs in der Natur bleibt ein Geschenk und, wenn wir wollen, ein Fest für die Sinne. Wenn wir uns die Dankbarkeit dafür bewahren, die mir persönlich mitten in den Ausgangsbeschränkungen immer wieder durch Herz und Kopf ging, dann bewahren wir etwas Großes, nämlich die Fähigkeit von Dankbarkeit im vermeintlich Kleinen und Unbedeutenden des Alltags. Darin steckt ein großes Potential, darin steckt Reichtum, den uns ein Coronavirus nicht nehmen kann.

Es kommt also darauf an, wie wir uns gegenüber dem Unabänderlichen, das wir nicht beeinflussen können, verhalten. Welche Einstellung wir entwickeln und welche persönlichen Antworten wir finden. Hierzu zählt tatkräftiges Handeln genauso wie eine innere Haltung von Akzeptanz und Zustimmung.

Corona bietet uns allen eine einmalige Chance. Die Chance unser aller Geschick tatsächlich neu, gestalterisch und solidarisch als Weltgemeinschaft in die Hand zu nehmen. Möge es uns gelingen, die Welt durch diese Krise zu einer besseren zu machen! Je mehr Menschen sich daran beteiligen, desto leichter und schneller wird es gehen. Möge es so kommen, dass wir im Rückblick auf das Jahr 2020 von einem großen Geschenk an die Menschheit sprechen werden!


© Privat

Christian Firus

Dr. med. Christian Firus ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Psychiatrie sowie TV-Experte. Er ist Oberarzt in der Rehaklinik Glotterbad bei Freiburg. Seine Schwerpunkte sind die Behandlung von Depressionen, Burnout und Traumafolgestörungen sowie die Förderung seelischer Gesundheit.
Weitere Infos unter christian-firus.de.

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