In den 1980er- und 1990er-Jahren wurden die Verlage Patmos und Matthias Grünewald im deutschsprachigen Raum zur verlegerischen Heimstatt der Befreiungstheologie, insbesondere der Werke von Leonardo Boff und Gustavo Gutiérrez. Der damalige Papst Johannes Paul II. und sein engster Mitarbeiter Joseph Ratzinger – der als Präfekt der Glaubenskongregation über die katholische Lehre wachte – hatten ein ambivalentes Verhältnis zu politischer Aktivität von Theologen. Während sie deren Einsatz gegen die kommunistischen Regime in Osteuropa begrüßten und unterstützten, lehnten sie den Einsatz gegen ungerechte Strukturen in Lateinamerika ab. Die dortige Bewegung stand in Rom unter Marxismusverdacht.
Dass es Ratzinger schwerfiel, die Anliegen der Befreiungstheologie zu verstehen, hatte wohl auch biografische Gründe. Er hatte Nationalsozialismus und Sozialismus kennengelernt, misstraute deshalb Mehrheiten und fremdelte mit allem Politischen und Staatlichen. Man wird sagen dürfen, dass Kardinal Ratzinger der Theologie der Befreiung damals Unrecht getan hat.
Mit ihrem ganzheitlichen Ansatz, dass Glaube und Gerechtigkeit untrennbar zusammengehören, war sie ihrer Kirche um Jahrzehnte voraus. Viele ihrer Ziele haben durch Papst Franziskus – der durch die »Theologie des Volkes« des argentinischen Theologen Lucio Gera geprägt ist – inzwischen Aufnahme in die katholische Soziallehre gefunden, z. B. in der Enzyklika »Fratelli tutti«: »Es gibt eine sogenannte Liebe ›aus innerem Verlangen‹: Das sind die Akte, die direkt aus der Tugend der Liebe hervorgehen und sich auf Personen oder Völker richten. Es gibt sodann eine ›gebotene‹ Liebe: Das sind jene Akte der Liebe, die dazu anspornen, bessere Institutionen zu schaffen, gerechtere Ordnungen, solidarischere Strukturen. Daraus folgt: ›Ein ebenso unverzichtbarer Akt der Liebe ist das Engagement, das darauf ausgerichtet ist, die Gesellschaft so zu organisieren und zu strukturieren, dass der Nächste nicht im Elend leben muss‹« (FT 186).
Theologie war seine Form der Nächstenliebe
Trotz der unterschiedlichen Auffassungen schauen wir mit Respekt auf den Menschen Joseph Ratzinger und sein beeindruckendes Lebenswerk. Denn es ging ihm nie um ihn selbst, sondern immer um die Sache Gottes, wie er sie vor seinem Gewissen erkannt hatte und wie er sie auch in einer Öffentlichkeit, die ihm oft wenig Sympathie entgegenbrachte, vertrat. Das darf und muss man anerkennen, auch wenn man die Schlüsse, die er zog, nicht teilt.
Joseph Ratzinger war ein klassischer Intellektueller, und dennoch hatte seine Dogmatik eine pastorale Grundmelodie. Weil Vernunft ohne Glauben die Realität nur zum Teil begreift und weil Glaube ohne Vernunft zur Gewalt tendiert, wollte er Glauben und Vernunft nie getrennt voneinander denken. Sein Lebenswerk entfaltete die Botschaft, dass es vernünftig ist, sich im Leben und im Sterben auf Gott zu verlassen, dass dieser vernünftige Glaube nicht ins Leere greift, sondern zu Leben in Fülle führt. Diese Gewissheit vermisste er in Teilen der Theologie. Sie den Gläubigen aufzuzeigen war seine Form der Nächstenliebe, und ihr ist er treu geblieben, als er 2005 Papst wurde und schreibender Theologe blieb. Der Band »Hoffnung, die uns hält. Woran ich glaube«, mit dem er schließlich selbst zum Patmos-Autor wurde, gibt davon einen Eindruck.
Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. hat sein Leben in Gottes Dienst gestellt. Er hat Fehler gemacht wie jeder Mensch, und wer ohne Fehler ist, werfe den ersten Stein. Er hat beeindruckende Zeichen der Demut und der Erdung des Papstamtes gesetzt. Wir wünschen ihm den Frieden, den nur Gott zu geben vermag.