»Zum vollen Leben erwachen«

Johannes Soth interpretiert die Zen-Gedichte »Der Ochs und sein Hirte« neu für die Gegenwart. Eine Einführung von Michael von Brück

Achtsamkeit Entspannung Gesund leben Harmonie

Unser Wissen ist abhängig vom Zustand des Geistes, von Klarheit und Tiefe, von Unvoreingenommenheit und Lust an der Erkenntnis. Um tiefgründige Fragen zu stellen und womöglich (vorläufige) Antworten zu erhalten, bedarf es der Schulung des Geistes. Alles kulminiert in den beiden Fragen: Wer bin ich? Und wer ist es, der/die eine solche Frage stellt? Die Schulung des Geistes gleicht dem Weg durch eine Landschaft, die teils bekannt, teils unbekannt ist. Vor allem aber verändert sie sich ständig.

Es gibt bekannte Wege, die seit Jahrtausenden erprobt sind, und die unbekannten Wege sind zunächst nur angedeutete Pfade, die ins Dickicht führen könnten oder aber ganz neue Möglichkeiten des Weitergehens eröffnen. Es braucht Mut, das Unbekannte zur erkunden und es braucht Kenntnis und Weisheit, das Bekannte so zu nutzen, dass Erfahrung die Schritte ins Unbekannte begleitet, damit die Risiken und möglichen Irrwege bewältigt werden können.

Zen als Wegweiser?

Zen ist einer der erprobten Wege in die unbekannten Labyrinthe des Geistes. Die Zen-Praxis ist wie ein Geflecht von Wegweisern, klug angelegten Tritthilfen, Leitern und Geländern, die den Weg sichern. Ausrutschen kann man trotzdem, und besonders dann muss man an die Hand genommen werden, um wieder auf einen sicheren Pfad zurückzufinden. Das Ziel ist denjenigen, die noch nicht angekommen sind, unbekannt. Aber – gibt es denn überhaupt ein Ankommen, also ein Ende des Weges? Führt er nicht immer weiter, ist der Geist nicht unerschöpflich? Ist das Gehen nicht selbst das Ziel, wie es in so vielen spirituellen Traditionen heißt?

Wir wissen es nicht genau. Denn wenn von alten und erprobten Traditionen die Rede ist, so handelt es sich um Zeiträume von zwei Jahrtausenden, vielleicht etwas weniger oder mehr, aber die bisherige Menschheitsgeschichte kann in Zehntausenden von Jahren gemessen werden, und was die Zukunft bereit hält, ist – wenn es für die Menschheit eine Zukunft gibt – unbekannt. Was aber bekannt ist, können wir in dem Erfahrungssatz zusammenfassen: Unsere geistigen Kapazitäten sind begrenzt, aber der ursprüngliche Geist, der in uns wach werden kann, ist unerschöpflich. Er geht weit über alle unsere Begriffe und Konzepte hinaus. Die Reisen in solche ›Räume‹ sind Abenteuerreisen in eine terra incognita, vielleicht vergleichbar mit dem Abenteuer der Seefahrer, die es wagten, über den bekannten Horizont hinaus zu segeln.

Ohne Begleitung geht es nicht

Aber auch sie hatten Seekarten, Messgeräte und vor allem die Erfahrungsberichte ihrer Vorfahren. Das ist unerlässlich. Auch wenn vieles unbekannt ist und der Weg zu jedem Zeitpunkt anders erscheint, individuell neu und unvergleichlich, weil kein Mensch einem anderen gleicht, so gibt es doch Muster und Strukturen, Landkarten gleichsam, die durchaus hilfreich sind, wenn man sich zurechtfinden will. Und: Ohne Begleitung geht es nicht. Menschen gehen ihren Weg des Lebens und Sterbens zwar individuell, und jeder Prozess der körperlichen Entwicklung und geistigen Reifung unterscheidet sich von anderen, aber trotzdem haben wir genetisch gemeinsame Anlagen wie geistige Funktionsmuster, die sich zwar verändern, aber doch aufeinander aufbauen – unser Geist hat, individuell wie kollektiv, ebenso eine Geschichte wie die Natur, die uns bestimmt. Sie determiniert uns nicht, aber sie konditioniert uns. Solche Konditionierungen zu erkennen und sie aufzuschlüsseln, um neue Entfaltungsmöglichkeiten zu entdecken, ist hilfreich, vermutlich sogar notwendig.

Die Ochsenbilder als »Kartographie« für den Zen-Weg

Eine lang bewährte ›Landkarte‹ dafür sind die so genannten Bilder vom Ochsen und dem Hirten, wie sie im China der Song-Zeit entwickelt wurden. Sie gelten seither den Zen-Übenden in ganz Ostasien, seit mehr als hundert Jahren auch in Amerika, Europa und der ganzen Welt, als maßgebliche Kartographie für den Zen-Weg. Zen bleibt allerdings, wie auch die Ochsenbilder, nicht an die buddhistischen Kulturen gebunden. Zen hat dort seinen Ursprung, wächst aber darüber hinaus. Es drückt sich in kulturell spezifischer Sprache aus, beschreibt jedoch zugleich anthropologische Universalia. Darum können Menschen aus allen Kulturen, Religionen und Sprachwelten diesen Weg der Entdeckung des Menschlichen gehen und auch finden, was sie gesucht haben.

Unerwartetes zum Ausdruck bringen

Warum aber keine verstehbaren Texte, die eine klare ›Gebrauchsanleitung‹ präsentieren, sondern Bilder? Eben darum, weil Menschen Bilder imaginativ deuten, weil sie auf dem Hintergrund der je eigenen Erfahrung und Möglichkeiten den Raum der Fantasie öffnen und kreativ neue Gestaltungen ermöglichen. Weil sie nicht festlegen, sondern zur jeweils eigenen Gestaltung einladen. Das allerdings umso wirkungsvoller, je genauer man die Bilder betrachtet und Zusammenhänge erkennt. Dazu bedarf es der Anleitung, die in diesem Buch klug und konkret gegeben wird.

Auch Sprache erreicht keine Eindeutigkeit. Einerseits kann sie dazu verführen, dass man im sprachlichen Ausdruck glaubt, die Sache abgegrenzt, also definiert, zu haben, dass man die Deutung besäße und getrost nach Hause tragen könne, dass also die Offenheit in ein geschlossenes System überführbar sei. Das mag dem menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit entgegenkommen, aber es schließt den Horizont und behindert die Entdeckung des Unbekannten. Es ist eine Einkerkerung der Kreativität. Andererseits kann Sprache aber Wichtiges leisten, nämlich Wegweiser sein. Sie kann auf die Spur führen und gerade Unerwartetes zum Ausdruck bringen. Dann ist es ein poetischer Gebrauch der Sprache, wie sie in den Zen-Kōan aufleuchtet. Hier ist der gute Sprachgebrauch geradezu ein Prüfkriterium für die Tiefe der Zen-Erfahrung, wie es in den Begleit-Überlieferungen zur Kōan-Sammlung Shumon Kattoshu heißt. Diese Sammlung ist maßgebend für das Kōan-Studium in der Rinzai-Schule des Zen, und hier heißt die dritte Gruppe von Kōans gonsen, was man mit ›Aufklärung durch Sprache‹ übersetzen kann. Was verbal nicht beschreibbar ist, kann dennoch zur Sprache gebracht werden – durch Bilder und Worte. Die Ochsenbilder und die dazugehörigen Gedichte sind dafür ein gutes Beispiel.

Die Empfindungen des Ungenügens

Die Ochsenbilder beschreiben den Weg des Menschen, der seine eigene Tiefe ausloten will, der wissen will, wer er eigentlich ist: »Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich?« In der Sprache des Zen: »Was war dein Antlitz vor der Geburt deiner Eltern?« Das sind die Grundfragen, die Menschen sich selbst und/oder einander stellen. Irgendwann im Leben, hoffentlich nicht zu spät, denn die Frage selbst beeinflusst schon die Lebensqualität. Das Fragen macht den Menschen wesentlich, setzt ihn zumindest auf die Spur. Wir können die Bilder ›meditations-psychologisch‹ lesen, als Phasen der menschlichen Reifung, die aber nicht immer gradlinig nacheinander ablaufen – es gibt Rückschritte, Schleifen, auch Sprünge. Manche Aspekte sind gleichzeitig wirksam.

Zuerst muss der Mensch überhaupt den Verlust seiner Mitte oder Tiefe spüren. Das ereignet sich oft erst in Krisensituationen. Jeder kennt das, aber nicht wenige neigen zur Verdrängung aus Angst oder Bequemlichkeit, beides, um den bohrenden Fragen zu entgehen. Wer sich aber eines Mangels bewusst wird, sollte auf die Suche gehen. Die Empfindung des Ungenügens kann unterschiedliche Färbung haben – Überdruss, Langeweile, Unbehagen, Sinnlosigkeit, die schlichte Vermutung, dass das Leben doch mehr sein müsse als das alltäglich Triviale: Hat die Evolution wirklich ein so komplexes Netzwerk wie das Bewusstsein bzw. seine materielle Stütze, das Gehirn, hervorgebracht, damit wir so geistlos dahinleben, wie wir es oft tun? Wer so fragt, hält inne. Dann also sucht man. Oft lange und vergeblich, bis eine Spur sichtbar wird. Der Spuren sind viele, aber man kann lernen, die Fährte zu lesen, wie im Dschungel oder in der Wüste. Verlaufen kann man sich durchaus.

Zen ist Praxis

Es bedarf der Anleitung, der Führung. Sie kommt von innen oder von außen, im Idealfall kommt beides zusammen: Die Ochsenbilder sind eine Landkarte, aber diese wird lesbar mittels der Erläuterung durch erfahrene Begleiter. Jedenfalls erscheint dann das Gesuchte – zunächst als wildes Tier, das gezähmt werden muss. Der Geist wird kultiviert. Bis er schließlich ins Alltägliche zurückkehrt. Aber nun hat er Strahlkraft gewonnen, Gelassenheit und Kraft zugleich. Das Leben hat eine neue Farbe bekommen, mehr noch, es ist so offen geworden, dass es in allen Farben glänzen kann. Aber das sind wieder nur Worte … Zen ist Praxis. Theorie kann und will den Rahmen sowie die Richtung markieren. Es geht darum, dass wir weise werden, um ein gutes Leben und ein gutes Sterben zu leben. Zen empfiehlt dafür drei Grundhaltungen, die nur scheinbar Widersprüche sind, in der Praxis aber einander stützen. Das starke Vertrauen (daishinkon), den großen Zweifel (daigidan) und den festen Willen (daifunshi): Vertrauen, dass die Wirklichkeit letztlich eine Ordnung ist und der Weg des Buddha zu entsprechender Erfahrung gültig war, ist und bleibt; Zweifel an allen vorläufigen Positionen und Einstellungen, wodurch ständige Vertiefung möglich wird und der Weg offen bleibt; der Wille, trotz vieler Hindernisse den Weg mutig und mit Freude zu gehen, auch wenn man zu scheitern scheint.

Weisheit ist Maß in der Praxis durch Wissen. Zen-Praxis lässt uns wissen, und sie beschreibt das angemessene Maß. Sie vermittelt Körperwissen und tiefes geistiges Wissen. Beide Aspekte sind nicht voneinander zu trennen. Wissen wird Weisheit in der Praxis des Bewusstwerdens. Für jede Lebenssituation neu und einzigartig. Und doch ist es immer das Eine.

Ihr Michael von Brück

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