Türchen 18 – Weihnachtsbrief von Rainer Maria Rilke
Bei diesem Brief an seine Mutter spürt man, welch hohe Bedeutung das Fest der Besinnlichkeit für Rainer Maria Rilke in der damaligen Zeit hatte.
Advent WeihnachtenERFÜLLUNG IN UNSEREN HERZEN
So lass uns, liebe Mama, auch heute, wie seit Jahrzehnten, wie in meiner kleinsten Kindheit, staunend und freudig vor diesem heiligen Geheimnis vereinigt sein: wie sehr der gute Papa das Geschenkzimmer vorzubereiten wusste, so dass das Kinderherz hoch aufschlug beim Aufspringen der Flügeltür und meinte, wie von einer Welle der Erfüllung überwältigt zu sein.
Aber wie viel gewaltiger noch, je mehr dieses eine kindliche Herz wächst und zunimmt, wie ungeheuer überlegen auch noch in ihm, dem erwachsensten Herzen, bleibt diese verschwenderische jede seiner Erwartungen überfüllende Welle, wenn sie nun nicht mehr aus dem heimlich ausgestatteten, plötzlich eröffneten Zimmer, nicht mehr vom übervollen Gabentisch, sondern von der kleinsten unscheinbarsten Stelle herüberschlägt, an der wir das Weihnachtslicht anzünden.
Die Erscheinung des lieblichen Wunders durfte kleiner, geringer werden, weil wir dahingekommen sind, über dem mindesten Zeichen seiner Gegenwart, den ganzen Glanz in uns, in unserem festlichen, geordneten Gemüt wahrzunehmen. Die Bescherung hat draußen nur ein Tischchen für sich, aber die lange Tafel der Erfüllungen steht nun in unserem Herzen, umgeben von einem Glanz, der auch noch die Erinnerung an den schönsten Christbaum der Kindheit übertrifft.
(An die Mutter, 18. Dezember 1922, Rainer Maria Rilke)