Türchen 20 – Weihnachtsfrau mit Herz

Von einer besonderen Frau, die jeder in seinem Leben hat – man muss sie nur erkennen – handelt dieses Märchen von Tina Willms.

Advent Weihnachten Inspiration Freundschaft

Am Rande des Dorfes stand eine Kate, umgeben von einem verwunschenen Garten.
Ein Holzzaun umgab beides, doch hielt der niemanden ab.
Die Katzen nicht und auch nicht die Kinder, denn es fehlten zahlreiche Latten darin.
Fromm war die Frau, die dort wohnte, in dieser Kate.
Jeder im Dorf wusste das, täglich las sie in ihrer Bibel. Und freundlich war sie, ja, manche Menschen hielten sie geradezu für weise.
»Lass uns zu Katrin gehen«, sagte ein Kind zum anderen, das sich das Knie aufgeschlagen hatte.
Katrin schob niemanden beiseite mit einem »Ist nicht so schlimm!«, »Spiel weiter« oder »Jetzt nicht!«
Wer zu ihr kam, der schien für eine Weile das wichtigste Wesen im Universum zu sein.
Aufgeschlagene Knie etwa erhielten nicht nur ein Pflaster, auf das Katrin ein lächelndes Gesicht malte.
Nein, es gab auch Apfelsaft, selbstgemacht aus den Äpfeln vom knorrigen Baum am Rande des Gartens.
Und wenn die Kinder wieder loshüpften, um weiterzuspielen, dann war die Wunde schon fast vergessen.
Auch erwachsenen Menschen begegnete Katrin unvoreingenommen und interessiert.
Rief man ihr ein »Hallo« zu, so legte sie ihre Schaufel oder Hacke beiseite und kam an den Zaun.
Vom Wetter gelangte man, fast ohne es zu bemerken, zu anderen Themen. Sie fragte nach und hörte zu.
Tränen ertrug sie gelassen, bis sie versiegten. Was vorher kaum zu bewältigen schien, sortierte sich hier am Zaun zu einer lösbaren Aufgabe.
Wie machte sie das nur?
Katrin vergaß nicht so schnell. Traf man sie beim Einkaufen, so fragte sie noch einmal nach.
Manchmal verweilte sie dann mit dir zwischen den Regalen, als gäbe es weder Zeit noch Raum.
Nun sagst du: Das muss lange her sein. Solche Menschen gibt es nicht mehr, nicht in der heutigen Zeit.
Doch, sage ich, gibt es. Gestern war ich noch bei ihr.
Aber ich gebe zu: Es mag sein, dass die Erinnerung mir ein Damals als Gestern vorgaukelt. Oder andersherum. Und beides miteinander verwebt.
Und: ist nicht, was gestern war, gegenwärtig, wenn es Bedeutung für heute hat?
Jedenfalls wohnte Katrin nicht mehr in ihrer Kate und auch ihr Name hatte einen anderen Klang.
Aber sie war in der Nähe. Eine Nachbarin oder Freundin. Vielleicht auch deine, wer weiß?
Sie räumt den Tisch frei, da liegt die Zeitung vom Morgen. Die Bibel steht im Regal. Oder der Koran. Oder beides.
Kaffee oder Apfelsaft?, fragt sie.
Dann setzen wir uns.
Wie geht es? Sie schaut mich an.
Und ich bin das wichtigste Wesen im Universum, eine Stunde lang.

Aus dem Buch