Am 28. Juli 2023 verstarb Martin Walser in seinem 97. Lebensjahr. Zu seinem 95. Geburtstag erschien sein letztes großes Interview in Buchform, ein Gespräch mit Michael Albus und Arnold Stadler, im Patmos Verlag (»Lieber träumen wir alles, als dass wir es sagen«). Hier gibt der gefeierte und umstrittene Autor Einblick in die Art seines Schreibens:
Martin Walser: Ich habe erfahren, dass dem Schreiben etwas vorausgeht, was man Schmerz nennen darf. Konkreter gibt es für mich nichts. Alles andere ist, sage ich jetzt einmal, reine Lust, die sich nicht formulieren kann. Und da gibt es nicht zweierlei Vorgänge.
Als Kind in Wasserburg, ich weiß nicht warum, habe ich Papier vorgefunden, glänzendes, fabelhaftes, geschmeidiges Papier. Es war problemlos, was man damit anfangen soll. Ich habe mich auch nie verantwortlich gefühlt für das, was ich schreibe. Immer könnte ich sagen: Ich kann nichts dafür! Das ist halt so.
Die frühesten Vorgänge des Schreibens waren ja die, als ich nicht nur Kohlen verkaufen durfte und musste, sondern ich musste ja auch die Bücher führen. Und das waren eben ganz große, einen Meter breite Wunderwerke aus Papier. Alles Mögliche musste ich darin eintragen. Ich wusste, was da einzutragen war. Aber es war auch jedes Mal so, dass die Eintragungen diese glänzenden Seiten nicht ausfüllten, sondern dass unten immer sehr viel Platz war. Und ob ich jetzt sechzehn oder siebenundzwanzig war, diesen Platz konnte ich nicht frei lassen. Da habe ich einem Bedürfnis nachgegeben. Mehr kann ich darüber nicht sagen.
Michael Albus: Liege ich ganz falsch – ich weiß: eine gefährliche Formulierung – wenn ich sage: ES hat aus ihnen geschrieben?
Martin Walser: Das darf man mindestens so formulieren. Natürlich gibt man im Laufe der Zeit diesem ES alle möglichen Namen. Aber es war immer ES. Und das ist sozusagen auch geblieben. Ich schreibe heute aus keinem anderen Stimmungsanlass als damals in Wasserburg auf dem Dachboden. Das ist halt so.
Aus dem Dachbodenfenster in Wasserburg hat man bei günstigen Wetterlagen hinübergesehen ins Rheintal. Und schon hat man der Sprache entsprochen und etwas geschrieben. Das nannte sich dann: »Hölderlin auf dem Dachboden«. Gestimmt war ich von Hölderlin. Gestellt war ich von der Situation. Gut, das ist nichts Geheimnisvolles. Das ist einfach ein Bedürfnis. Jeder, auch der unterschiedlichste sogenannte Schriftsteller wird das kennen. Wenn er ein gutes Papier hat und etwas zum Schreiben, dann fällt ihm nichts anderes ein, als dass er schreibt. Und was er schreibt, das kann er nicht bestimmen. Das ist wirklich ein existentielles Zitat.
Michael Albus: Aber Sie freuen sich doch, wenn man das ernst nimmt, was Sie schreiben? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihnen das gleichgültig ist, wenn Sie nicht ernst genommen oder gar verletzend herabgesetzt werden.
Martin Walser: Nein! – Nur: Es ist die Frage, was man will, wenn man schreibt … Also ich sage: Man schreibt nicht, weil man etwas Bestimmtes will, sondern man schreibt, weil man nichts anderes tun kann als schreiben. Natürlich überlegen sich Schreibende nachher, warum sie geschrieben haben. Das ist ein nachgehender Vorgang.
Michael Albus: Davor ist erst mal das »Ich muss schreiben!«
Martin Walser: Ja. – Und die Frage des Warum ist eine dem Autor nicht nötige Frage zum Beantworten. Ich bin als Bub hinauf zum Dachboden und habe in den alten Geschäftsbüchern, die meine Mutter – der Vater war schon tot – dort hinaufschaffen ließ, geblättert und geblättert und dann war es ganz natürlich, dass ich aus diesem Lesen auch selber etwas machen wollte. Dann habe ich vom Dachboden ins Rheintal hinübergeschaut und dann angefangen zu schreiben.
Ich glaube, es gab immer konkrete Anlässe, das und das zu schreiben. Auch, wenn es nicht sehr allgemeine Fragestellungen waren, sondern höchst spezielle Kleinigkeiten oder Intensitäten. Aber man hat noch nie geschrieben – also ich jedenfalls nicht –, weil man glaubte, das Welträtsel lösen zu können. Schreiben als eine natürliche Tätigkeit!
Aus dem Nachwort von Arnold Stadler:
Liebe heißt: Ja-Sagen. Schreiben ist Ja-Sagen. Martin Walser hatte wohl auch eines Tages ein leeres Blatt vor sich und sein Schreibwerkzeug genommen und mit ihm »ja« gesagt. Denn wer »nein« sagt, muss gar nicht erst beginnen, er hat das Leben schon hinter sich. Das gilt für alle, die mit irgendetwas Großem beginnen: Dass sie es nicht zum Spaß tun, sondern weil es sein muss. Also zeigt uns der Vergegenwärtiger mehr als tausend Mal, was er von Tag zu Tag entdeckt hat, auch für uns, die wir nun haben, was wir sonst nicht hätten: den Beweis, dass das Wahre nicht einfach ein Scherz oder eine lebenslängliche Illusion ist. Seine Sätze sind mir ein Beweis dafür, dass der Mensch immer noch auf der Suche nach etwas ist, und in vergangenen Zeiten war es auch das sogenannte Schöne. Das Wort ist verworfen, aber die schönen Sätze gibt es immer noch. Wie auch die Wege des Satzsuchers, Schatzsuchers, wie einer von ihnen Martin Walser ist. Und nicht irgendeiner. Das Schönste an Martin Walser ist für mich vielleicht, dass auch er das Unsichtbare sichtbar gemacht hat, nun schon ein Schriftstellerleben lang.