Das Leben ist eine Insel
Khalil Gibran ist uns als Autor des »Propheten« bekannt. Dieser poetische Text aus einem seiner weiteren Werke bringt das Wertvolle stiller Stunden zum Klingen
Lebensweisheit InspirationDas Leben ist eine Insel in einem Meer der Einsamkeit und Zurückgezogenheit.
Das Leben ist eine Insel, deren Felsen die Wünsche und deren Bäume die Träume sind, deren Blumen die Verlassenheit und deren Quellen der Durst ist. Sie liegt inmitten eines Meeres der Einsamkeit und Zurückgezogenheit.
Dein Leben, Bruder, ist eine Insel, die von allen anderen Inseln und Territorien abgetrennt ist. Obgleich du Schiffe und Barken an andere Ufer aussendest, und obwohl Flotten und Geschwader deine Ufer erreichen, bist du dennoch eine abgetrennte Insel, allein durch dein Leid, abgesondert durch deine Freude, abgelegen durch deine Sehnsucht und unbekannt durch deine Geheimnisse und Rätsel.
Ich sah dich, Bruder, auf einem Berg Gold sitzen, glücklich über deinen Reichtum, und du übertrafst den Gesang des Dichters mit dem Vergleich, dass jedes Stäubchen Gold einen Faden darstellt, der das Denken der Menschen mit deinem Denken verbindet und ihre Neigungen mit den deinen verknüpft.
Ich sah dich als Eroberer Truppen von Soldaten gegen eine unzugängliche Festung führen, die du zerstörtest und einnahmst.
Doch als ich ein zweites Mal hinsah, entdeckte ich hinter der Mauer deiner Schätze ein Herz, das in seiner Einsamkeit und Zurückgezogenheit zitterte, wie ein Verdurstender zittert, der in seinem selbstgemachten Käfig aus Gold und Perlen sitzt, aber kein Wasser hat.
Ich sah dich, Bruder, auf dem Thron der Ehre sitzen, umgeben von Menschen, die deinen Namen rühmten, deine guten Taten priesen und auf dich blickten, als seien sie in der Gegenwart eines Propheten, der ihre Seelen und Geister erhebt, bis sie mit ihm die Planeten und Sterne umkreisen. Du sahst sie an, und dein Gesicht spiegelte die Glückseligkeit und Überwältigung der Macht, und es hatte den Anschein, als ob du für sie wärest, was die Seele für den Körper ist.
Doch als ich ein zweites Mal hinschaute, sah ich dein einsames »Ich« neben deinem Thron stehen, und es litt an seiner Entfremdung und erstickte an seiner Einsamkeit. Ich sah es seine Hände nach allen Seiten ausstrecken, als ob sie um Mitleid bäten und ein Almosen von unsichtbaren Geistern erbettelten; dann sah ich es über die Köpfe der Menschen hinweg zu einem entfernten Ort blicken, einem Ort, der völlig leer ist und an dem sich nichts befindet, außer seiner Einsamkeit.
Ich sah dich, Bruder, verliebt in eine schöne Frau, wie du dein schmelzendes Herz auf den Scheitel ihres Haares vergossest und ihre Handflächen mit Küssen bedecktest. Sie schaute dich verliebt an, ihre Blicke voller Zärtlichkeit, und auf ihren Lippen lag die Süße der Mütterlichkeit.
Da sagte ich mir: Die Liebe hat die Einsamkeit dieses Mannes aufgehoben und sein Alleinsein beendet; er ist zurückgekehrt zum universellen Geist, der durch die Liebe anzieht, was sich von ihm gelöst hat, in die Leere und ins Vergessen.
Doch ich sah dich ein zweites Mal, und ich entdeckte in den Falten deines verliebten Herzens ein einsames Herz, das vergeblich versucht, auf den Kopf einer Frau zu verströmen, was darin verborgen ist; und ich erblickte hinter deiner liebenden Seele eine andere einsame Seele, die dem Nebel glich, der vergeblich versuchte, zu Tränen in den Händen seiner Begleiterin zu werden.
Dein Leben, Bruder, ist ein einsames Haus, wie entfernt von allen Häusern und von allen Lebenden. Und dein inneres Leben ist ein Haus, das abseits liegt von den äußeren Erscheinungen, denen die Menschen deinen Namen verleihen. Wenn dein Haus dunkel ist, kannst du es nicht mit den Lampen deines Nachbarn erhellen; wenn es in einer Wüste steht, kannst du es nicht in einen blühenden Garten versetzen, den ein anderer angelegt hat; wenn es auf dem Gipfel eines Berges steht, kannst du es nicht in ein Tal versetzen, das andere geebnet haben.
Dein geistiges Leben, Bruder, ist von Einsamkeit und Zurückgezogenheit geprägt, und ohne sie wärst du nicht, was du bist, und wäre ich nicht, was ich bin. Ohne diese Einsamkeit und Zurückgezogenheit hätte ich beim Klang deiner Stimme geglaubt, dass ich spreche; und beim Anblick deines Gesichtes hätte ich geglaubt, mich in einem Spiegel zu sehen.