Tierleid in der Massentierhaltung
Bernd Kappes über die industrielle Tierhaltung und die Verantwortung des Einzelnen gegenüber unseren Mitgeschöpfen
Natur Nachhaltigkeit Verantwortung GesellschaftIn Deutschland werden pro Jahr 700 Millionen Tiere im Rahmen der Produktion von Fleisch, Milch und Eiern getötet. Weltweit wird die Zahl der jährlich getöteten Nutztiere auf 60 Milliarden Säugetiere und Vögel geschätzt. Dazu kommen jedes Jahr ein bis drei Billionen Wassertiere aus Fischerei und Aquakultur. Der Schriftsteller Jonathan Safran Foer stellt im Blick auf diese globalen Zahlen fest: »Unser Planet ist ein Tierhaltungsbetrieb.« (aus Jonathan Safran Foer: Wir sind das Klima! Wie unseren Planeten beim Frühstück retten können, Köln 2019, 95.)
Es ist wichtig, sich beim Nachdenken über das Mensch-Tier-Verhältnis mit biblisch-theologischen, naturwissenschaftlichen, philosophischen und ethischen Perspektiven auseinanderzusetzen. Genauso wichtig ist es aber, die Realität der heutigen Tierhaltung wahrzunehmen. In der Auseinandersetzung mit dieser Wirklichkeit können und müssen Theologie und Spiritualität konkret, praktisch und politisch werden.
Wie geht es den Tieren in den Ställen? Die Situation der Tiere in den Ställen ist in der Regel vor unseren Augen verborgen. Es ist das Verdienst der Tierschutzorganisationen, das Tierleid in der Massentierhaltung immer wieder sichtbar zu machen.
Aber ist »Massentierhaltung« überhaupt der richtige Begriff für die heutige Nutztierhaltung? Die eben genannten Zahlen sprechen dafür. Wenn in der Nutztierhaltung allein in Deutschland jedes Jahr 700 Millionen Tiere getötet werden, dann ist das eine Masse. Und auch in einzelnen Stallanlagen wird eine für Menschen, die mit der Situation unvertraut sind, oft kaum vorstellbare Zahl von Tieren gehalten. Aber natürlich kann auch bei einer kleinen Zahl von Tieren die Haltung schlecht sein. Das betrifft das Schwein im dunklen Verschlag ebenso wie die Kuh in Anbindehaltung.
Der Strukturwandel in der Landwirtschaft und seine Folgen
Der Begriff »industrielle Tierhaltung« verweist demgegenüber auf die ökonomische Optimierung der Tierhaltung mittels industrieller und arbeitsteiliger Verfahren, also mit Kostensenkungen durch technisierte Haltungssysteme einerseits und Produktionssteigerungen durch Hochleistungszucht anderseits. Dabei gilt wie für andere profitorientierte Lebensbereiche auch: Die Masse macht’s!
Aus diesem Grund hatte und hat die Ausrichtung der Tierhaltung an industriellen Mustern eine enorme Konzentration der Tierbestände zur Folge. Wachse oder weiche! Der Strukturwandel in der Landwirtschaft führt dazu, dass kleinere Betriebe aufgeben und große Betriebe weiter wachsen.
Im Ergebnis halten immer weniger Betriebe immer größere Mengen von Nutztieren – mit immer höheren »Leistungen« pro Tier, also zum Beispiel 300 Eier jährlich pro Legehenne statt früher 30 oder 8.500 Liter Milch jährlich pro Milchkuh statt 2.000 Liter noch vor 100 Jahren.
Die Leistungssteigerung wird dabei mit zwei Strategien erreicht: zum einen mit »verbesserter« Zucht und zum anderen mit »verbesserter« Fütterung. Mehr Tiere mit mehr Leistung: Diese Intensivierung der Nutztierhaltung steckt im Begriff der »Intensivhaltung«.
Die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) definiert Intensivtierhaltung anhand eines doppelten Kriteriums: Bei weniger als zehn Prozent des Futters vom eigenen Betrieb und mehr als zehn »Großvieheinheiten« pro Hektar betrieblicher landwirtschaftlicher Nutzfläche spricht die FAO von Intensivtierhaltung. Bei beiden Kriterien geht es um das Verhältnis von Tieren und Fläche, nämlich um den Anteil der Futterproduktion vom eigenen Acker und um die sogenannte »Besatzdichte«.
Massentierhaltung, industrielle Tierhaltung, Intensivtierhaltung – welchen Begriff man auch wählen mag: Wenn Politiker:innen und Interessenvertreter:innen von »bäuerlichen Familien« sprechen, für die sich Verbände und Politik einsetzen würden, dann schreiben sie in aller Regel bewusst ein falsches Bild vom idyllischen Bauernhof fort und verschleiern die dominante Realität der heutigen Nutztierhaltung.
Höchstens 2% des Fleischs kommt aus artgerechter Tierhaltung
Auch das Fleisch, das viele Menschen in gutem Glauben beim Metzger ihres Vertrauens kaufen, kommt zum allergrößten Teil aus Intensivtierhaltung, denn 98 Prozent der in Deutschland zum Verzehr bestimmten Tiere stammen aus industrieller Tierhaltung, bei Schweinen sogar 99,3 Prozent. (Zahlen des Statistischen Bundesamts von 2008, zitiert nach Bernd Ladwig: Politische Philosophie der Tierrechte, Berlin 2020, 16f.)
In TV-Dokumentationen über die agrarindustrielle Tierhaltung sind immer wieder schockierende Bilder von Tieren zu sehen, deren Leiden offensichtlich ist. Handelt es sich dabei um einzelne schwarze Schafe unter den agrarindustriellen Tierhaltungsbetrieben? Oder ist das Tierleid ein strukturell bedingter Teil des Systems der industriellen Tierhaltung?
Intensivtierhaltung ist immer mit Tierleid verbunden
Antworten auf diese Frage liefert die Nutztier-Ethologie, also die wissenschaftliche Untersuchung und Bewertung von Tierhaltungssystemen. Bernhard Hörning ist Professor für ökologische Tierhaltung. Bei seinen Vorträgen wird den Zuhörenden schnell schwindelig. Das liegt zum einen an der Vielzahl der Fakten und Zahlen, die Hörning auf seinen Folien zu präsentieren hat. Vor allem liegt es aber an den Erkenntnissen selbst, die zu den Auswirkungen der Intensivtierhaltung auf die Tiergesundheit vorliegen. Hörnings Fazit: »Die Haltungsbedingungen der Intensivhaltung und die hohen Leistungen belasten die Tiere erheblich.« (aus Bernhard Hörning: Intensivhaltung von Nutztieren in Deutschland. Probleme und Alternativen, in: Diehl/ Tuider Hg. (2019), 167.)
Das ist wissenschaftlich-nüchtern formuliert. Der Tierarzt Matthias Wolfschmidt von der Verbraucherschutzorganisation foodwatch sagt es so: »Die Bedingungen, unter denen heute Fleisch, Milch und Eier produziert werden, machen Millionen Nutztiere systematisch krank.« (aus Matthias Wolfschmidt: Das Schweinesystem. Wie Tiere gequält, Bauern in den Ruin getrieben und Verbraucher getäuscht werden, Frankfurt am Main 2016, 19.)
Kann ein Umdenken stattfinden?
Die Auseinandersetzung mit den Problemen der Intensivtierhaltung sollte nicht moralisieren, sondern politisch sein. Denn die Entscheidungen einzelner Betriebsleitungen finden innerhalb gesetzlicher, politisch geschaffener Rahmenbedingungen statt, die bestimmte Entwicklungen in der Tierhaltung begünstigen und andere Konzepte behindern. Es geht hier also vor allem um agrarpolitische Fragen. Wo die Ebene individueller Entscheidungen betroffen ist, sind Produzenten und Konsumenten gleichermaßen in der Pflicht.
Erfahren Sie mehr zum Thema und lesen Sie weiter im Buch »Mitgeschöpfe« von Bernd Kappes.